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Rudolf Burger: "Vertiefung der EU kommt mit Lissabon-Vertrag zum Ende." | "Demokratie auf europäischer Ebene ist nicht möglich." | "Wiener Zeitung": In Sachen Demokratie laufen die Menschen seit zweieinhalbtausend Jahren einem Traum nach. Heute bestimmen Massenmedien und Kommunikationsstrategien von Parteien den demokratischen Prozess. Ist das tatsächlich die unserer Zeit angemessene Form von Demokratie? | Rudolf Burger: Es gibt keine ideale Demokratie als Realität. Mit der Demokratie verhält es sich genauso wie mit der Gerechtigkeit: Beide sind im Sinne Kants Ideen und keine Begriffe.
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Aristoteles verstand unter Gerechtigkeit "jedem das Seine", die Moderne tendiert zum Prinzip "jedem das Gleiche". Das wiederum steht in einem Spannungsverhältnis zum demokratischen Grundsatz der Freiheit. Das Wort Demokratie stammt aus der griechischen Polis und bedeutete ursprünglich etwas ganz anderes als die heutige Massendemokratie: Die Polis war eine direkte Demokratie mit der steten Tendenz zur Diktatur. Begriffe wie Toleranz oder Minderheitenschutz sind keine demokratischen, sondern liberale Werte. Hinzu kommt, dass die griechische Demokratie jeden Stimmbürger zur Teilnahme verpflichtete. Deshalb ist sie auch mit einem Kriegsschiff, die moderne repräsentative Massendemokratie dagegen mit einem Passagierdampfer verglichen worden, in dem die Passagiere höchstens alle paar Jahre die Mannschaft austauschen.
Demokratie wird heute vor allem als Parole verwendet, in die alles Wünschenswerte hineinverpackt wird. Tatsächlich ist Demokratie ein höchst kompliziertes Konglomerat an verschiedensten politischen Prinzipien - und nur eines davon ist das demokratische Prinzip als Legitimation von Herrschaft auf Zeit.
Unsere Demokratie hat sich auf der Ebene des Nationalstaats entwickelt .. .
Ja, und ich denke, dass der Nationalstaat - und nur dieser - nach wie vor der Entfaltungsraum dessen ist, was wir heute unter Demokratie verstehen.
Warum sollte eine staatenübergreifende Form von Demokratie keine Chance haben? Die Europäische Union versucht sich ja daran.
Grundsätzlich, also unhistorisch gedacht, erscheint das durchaus möglich. Aber Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, Liberalismus, das alles sind Reflexionen auf historische Erfahrungen. Wenn man das berücksichtigt, sieht man, dass der politische Begriff der Nation und des Nationalstaats eigentlich gleichzeitig mit diesem Verständnis von Demokratie entstanden ist. Hinzu kommt, dass Demokratie, schon vom Begriff her, ein Volk voraussetzt. Demokratie kann sich also nur in einem Bereich entfalten, in dem Menschen über eine wie auch immer geartete kollektive Identitätsbildung verfügen.
Das französische Verständnis von Nation beruht aber auf einer freien Willensentscheidung. Warum sollte das nicht auch auf europäischer Ebene gelingen?
Dazu bedürfte es eines zumindest minimalen gemeinsamen Bewusstseins.
Ist ein solches in Europa nicht im Entstehen?
Ob so etwas einmal entstehen wird, kann man natürlich nicht ausschließen. Ich denke aber, dass der Prozess der ökonomischen Einigung Europas wesentlich rascher vor sich gegangen ist als die Entwicklung eines europäischen Kollektivbewusstseins. Ein solches wird zwar immer wieder beschworen, vielleicht gibt es das auch in Ansätzen, aber politisch tragfähig ist es sicher nicht. Trotz durchaus vorhandener Bemühungen gibt es de facto keine europäische Öffentlichkeit, dem stehen schon die sprachlichen Hürden entgegen. Ein Zeichen dafür ist sicher auch, und ich sage das völlig wertfrei, das Verschwinden europäischer Bildungseliten, etwa die Intellektuellen und der Adel, der per se transnational organisiert war. Damit driften meiner Überzeugung nach die europäischen Völker eher noch weiter auseinander, obwohl sie durch europäische Institutionen eigentlich immer stärker integriert werden. Für mich lautet die Konsequenz daraus: Je mehr EU, desto weniger Demokratie. Das ist, so meine ich, unausweichlich.
Gerade Österreich aber wurde durch den Beitritt zur EU offener, demokratischer, indem bisher abgeschottete Bereiche geöffnet wurden.
Ja, das ist vollkommen richtig. Ich bin mir aber nicht sicher, ob man diese Durchlüftung, Öffnung, pauschal mit dem Begriff Demokratisierung gleichsetzen darf. Es war eine gesellschaftliche, wenn Sie so wollen auch moralische Durchlüftung. Aber was die formalen Strukturen betrifft, wurde lediglich die Realverfassung der geschriebenen Verfassung angenähert. So hat etwa die Sozialpartnerschaft sicher an Einfluss verloren. Aber formal werden natürlich Entscheidungen, indem sie von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert werden, der demokratischen Kontrolle entzogen. Man sieht das ja derzeit an den Studentenprotesten: Die Einführung des dreistufigen Studiensystems kann von keinem nationalen Parlament mehr rückgängig gemacht werden.
Trotzdem scheint sich die demokratische Qualität der EU zu verbessern, immerhin gewinnt das europäische Parlament dank Lissabon an Mitspracherechten. Ist das nicht doch ein Quantensprung?
Als Physiker darf ich Sie daran erinnern, dass ein Quantensprung der kleinstmögliche Übergang zwischen zwei Energiezuständen ist. Natürlich muss man abwarten, wie sich das EU-Parlament weiterentwickelt, grundsätzlich ist ein Parlament aber eine Volksvertretung und es gibt schlicht kein europäisches Volk, das behaupte ich zumindest. Ich sehe das EU-Parlament eher als kontrollierenden Beirat, vor allem weil es ja keine legislativen Befugnisse hat. Gemünzt auf die EU-Institutionen sind sämtliche Begriffe der europäischen Staatslehre, angefangen bei der Gewaltenteilung, schief. Das Ganze ist sozusagen ein Montesquieu’scher Skandal.
Das gilt auch für Österreich, schließlich kontrolliert auch hier nicht das Parlament die Regierung, sondern ist dank der Mehrheit der Regierungsparteien verlängerter Arm derselben.
Völlig richtig, nur ist in Österreich dieser Zustand nicht - anders als in der EU - in der Verfassung formalisiert. Wir führen dieses Gespräch in einem sehr interessanten Moment der europäischen Entwicklung, wo die Finalität der EU neu aufgeworfen wird. Seit den Römischen Verträgen von 1957 geht es in die Richtung einer immer tieferen Integration. Die EU war von Anfang an so etwas wie ein institutionalisierter Komparativ: Immer mehr und immer tiefer, ohne zu sagen, was das Ziel dieses Integrationsprozesses ist. Gerade in dieser Offenheit lag meines Erachtens nach die Kraft der EU. Als aber Joschka Fischer 2000 seine berühmte Humboldt-Rede hielt, hat er aus einer gewissen Position die Katze aus dem Sack gelassen, als er das Ziel eines europäischen Bundesstaats nach deutschem Vorbild formulierte. Genau da wollen jedoch viele in der EU nicht mit. Das Scheitern des Verfassungsvertrages und der daran anschließende Versuch, mit dem Lissabon-Vertrag einiges davon zu retten, zeigt für mich, dass die Frage der Finalität nun beantwortet ist: Tiefer geht es nicht mehr. In fast allen Staaten lehnen die Bürger eine tiefere Integration ab.
Nun war es aber stets das Erfolgsgeheimnis der EU, als Elitenprojekt von oben herab organisiert zu sein - wohl auch aus einem gewissen Misstrauen der Regierenden gegenüber ihren eigenen Bürgern. Gelockt wurden diese dabei nicht mit der Parole "mehr Demokratie", sondern mit dem Versprechen von Frieden und Wohlstand.
Ja, die gleiche Entwicklung haben Sie auch am Beispiel Österreichs nach 1945 mit dem Aufbau der Sozialpartnerschaft: Legitimität durch Duldung im Austausch für Wohlstand. Man darf eines nicht vergessen: Am Ursprung der europäischen Staatstheorie steht Thomas Hobbes mit seinem Leviathan: Für ihn sind das Wichtigste die Befriedung der Gesellschaft und die Möglichkeit, in dieser ein ordentliches Leben zu führen. Erst dann kann man weiterreden über andere, darüber hinausreichende Werte.
Wie ist dann die Forderung nach Demokratisierung der EU zu interpretieren?
Diese Forderung wird immer dann erhoben, wenn die gegenwärtige Form der Machtausübung nicht mehr voll als legitim erachtet wird; dies ist vornehmlich in Krisen der Fall. Grundsätzlich hat der gesellschaftliche Mensch, so Paul Valery, zwei Feinde: Ordnung und Unordnung. Zwischen diesen beiden Polen schwanken wir immer. Das reine technokratische Elitenmodell ist so gesehen ein neues Ordnungsprojekt. Dieses erstickt tendenziell lebendige Demokratie und führt gleichzeitig zum Aufschwung von Basisbewegungen.
Lissabon bringt für die Befürworter einen Demokratisierungsschub, Kritiker sehen die nationale Souveränität verloren. Wie lautet Ihre Prognose für die Zukunft der EU in den kommenden fünf bis zehn Jahren?
Das ist zwar sehr hypothetisch, aber eines scheint mir doch klar: Die Frage nach der Finalität Europas, und das erachte ich für das wirklich Neue, die ist mit dem Lissabon-Vertrag fürs Erste beantwortet: Das, was jetzt ist, ist ein Abschluss, auf absehbare Zeit steht eine weitere Vertiefung der EU nicht mehr auf der Agenda - die Finalität der EU heißt Lissabon. Was die Erweiterungen betrifft, so wird es noch zu Grenzarrondierungen kommen, Kroatien, Island - mit der Türkei wird es zwar einen langen Prozess geben, am Ende aber keinen Beitritt.
Was aber bedeutet das mental für die Europapolitik? Persönlich rechne ich hier trotz der Stärkung des EU-Parlaments mit einer Zunahme der Bedeutung des Rates, der Regierungschefs. Auch im Parlament wird es wohl zu einer Renationalisierung der Fraktionen kommen. Der Herausbildung europäischer Parteien gebe ich nur geringe Chancen, zumal vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise. Diese wird sich noch als Spaltpilz erweisen.
Wer wird der Motor hinter der künftigen Entwicklung Europas sein? In den ersten Jahrzehnten waren es die Regierungen, jetzt sehen Sie die Krise am Ruder - den Bürgern geben Sie keine Chance, die Dynamik zu bestimmen?
Nein, nicht als Motor, wenn, dann eher als retardierendes Element.
Rudolf Burger, geboren 1938, studierte erst Physik an der TU Wien. Seit 1990 ist er Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst, von 1995 bis 1999 war er dort Rektor.