Brexit sorgt für Nervosität. Weitere Pfund-Abwertung steht im Raum. Deutschland nähert sich bei 10-Jahresrenditen Negativzins.
Wien. Der Countdown läuft, in zehn Tagen stimmen die Briten über Verbleib oder Austritt aus der EU ab. Und die Unsicherheit wächst mit jedem Tag. Die Umfragen hatten zunächst die Pro-Europäer stabil vorn, jetzt hat sich das Blatt gewendet. Die "Financial Times" spricht von einem prognostizierten Vorsprung des Brexit-Lagers von 2 Prozent. Tendenz steigend. Den Demoskopen wird seit den letzten britischen Parlamentswahlen zwar nur mehr wenig Glauben geschenkt - damals war man von einem Patt zwischen Labour und Tories ausgegangen, schließlich wurde es ein absoluter Sieg für die Konservativen unter Premier David Cameron. Trotzdem zeigt sich die Finanzwelt massiv verunsichert, die Kurse rasseln nach unten.
Anleger fliehen ausden Aktienmärkten
Die Anleger versuchen der Unsicherheit zu entkommen und fliehen aus den Aktienmärkten. "Man rechnet mit einer negativen Überraschung", so Peter Brezinschek, Chefvolkswirt bei Raiffeisen, gegenüber der "Wiener Zeitung". "Die Finanzmärkte haben den Rückwärtsgang eingelegt."
Ein tendenziell sinkender Ölpreis tut sein Übriges. Es dominieren Konjunktursorgen, und dass die US-Notenbank Fed am Mittwoch an der Zinsschraube dreht, glaubt kaum jemand.
Unter der negativen Stimmung leidet auch das britische Pfund, das seit Monaten unter Druck ist und an Wert verloren hat. Brezinschek kann sich gut vorstellen, dass die britische Währung weiter abwerten wird - freilich nicht so massiv wie Anfang der 90er-Jahre, als das Pfund massivem Spekulationsdruck nachgeben musste und aus dem System fixer Wechselkurse katapultiert wurde.
Die Börsenkurse gehen an den Finanzplätzen nach unten, sollte es zum Brexit kommen, dann wird von manchen ein weltweites Erdbeben erwartet. Wobei laut Brezinschek jetzt schon viele negative Effekte vorweggenommen werden.
Der DAX schloss gestern den vierten Tag in Folge schwächer, auch der ATX fiel. Wobei die Banken die Unternehmen sind, die am stärksten von einem EU-Austritt der Briten betroffen wären - und das lässt sich an den Börsenkursen ablesen. Angesichts der Unsicherheit könnten weitere Rückschläge folgen, warnt Börsenprofi Markus Huber vom Brokerhaus City of London. "Die Stimmung ist schlecht", pflichtet ein Frankfurter Aktienhändler bei. Die Sorge vor einem Brexit drückt die Stimmung selbst an den asiatischen Börsen.
Nachgefragt werden in dieser Situation "sichere Häfen" wie Gold oder Anleihen. Dort bleiben die als sicher geltenden zehnjährigen deutschen Titel gefragt. Bei diesen gibt es fallweise gerade noch 0,011 Prozent Rendite, der Rutsch unter die Marke von null Prozent ist für Börsianer nur noch eine Frage der Zeit. "Ein historisches Tief ist erreicht", bestätigt Brezinschek, "die Renditkurve in Deutschland ist im negativen Bereich". Demnächst, so der Banker, werde man dafür bezahlen müssen, wenn man dem Bund Geld leihen will.
Wenn die Verunsicherung steigt, reiben sich die Goldhändler die Hände: In Großbritannien steigt die Nachfrage nach dem Endelmetall, gemeldet wird ein Umsatzanstieg von 5 bis 10 Prozent. Der Goldpreis stand zuletzt bei über 900 Pfund pro Unze, gut 150 Pfund mehr als zu Jahresbeginn - so teuer wie schon seit drei Jahren nicht mehr.
Einige Anleger schichten ihr Geld auch in Schweizer Franken um. Das drückte den Kurs des Euro auf ein Dreieinhalb-Monats-Tief.
Ein hoher Franken schadet allerdings der Schweizer Exportwirtschaft, die Notenbank tut alles, um einen Kursanstieg zu verhindern. Unterdessen hat die Brexit-Sorge auch die Schweizer Börse zu Wochenbeginn fest im Griff, der SMI sackte zuletzt ein.
Laut Wettbüros steigt Brexit-Wahrscheinlichkeit
Für das Lager der Pro-Europäer kam ein Blick auf die Quoten der britischen Wettbüros bislang einer Beruhigungspille gleich. Die Quoten deuteten auf einen stabilen, komfortablen Vorsprung der Brexit-Gegner hin.
Doch zehn Tage vor der Abstimmung ist das nicht mehr der Fall. Auch hier werden die Chancen auf einen Brexit jetzt so hoch eingeschätzt wie noch nie zuvor. Laut "Betfair" stieg die Wahrscheinlichkeit auf 36 Prozent, zuvor waren 22 gewesen. Der Buchmacher William Hill bietet Wettern, die auf einen Brexit setzen, nur noch die Hälfte des bisher in Aussicht gestellten Gewinns. Bei einem Wetteinsatz von vier Pfund sind das aber immer noch sieben Pfund zusätzlich.
Die Nerven flattern nicht nur in den Reihen der wohlhabenden Investoren, auch der "normale Bürger" ist verunsichert. Britische Brexit-Aktivisten nutzen das aus und setzen im Finale ihrer Kampagne auf Angstmache. Eine Gruppe von EU-Gegnern warnt die Briten via Twitter vor Gewalttaten wie zuletzt in Orlando/Florida mit 49 Toten. Ausweg sei der Austritt aus der EU.
Das Anti-EU-Lager setzt schon seit einiger Zeit auf das Ausländer-Thema, um die Unentschlossenen auf seine Seite zu ziehen. Eine effektive Abschottung gegenüber Fremden sei nur bei einem Austritt möglich, wird hier argumentiert. Das Pro-EU-Lager warnt vor wirtschaftlichen Konsequenzen, sollten die Briten der EU den Rücken kehren.