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Die Flamme weitergeben

Von Michael König

Gastkommentare
Michael König ist Senior Lecturer am Department of Strategy and Innovation an der Wirtschaftsuniversität Wien.
© privat

Eine nachhaltig wirksame akademische Lehre ist weit mehr als bloße Wissensvermittlung. Sie ist ein gemeinsam geschaffenes Kunstwerk.


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Die akademische Lehre ist eine hohe Kunst. Sie hat inhaltlichen und ästhetischen Ansprüchen gleichermaßen zu genügen. Sie wendet sich an den Menschen in seiner Vielfalt und individuellen Einzigartigkeit und vermittelt ein humanistisches Weltbild. Nachempfunden dem großen Welttheater des Max Reinhardt, des legendären Mitgründers der Salzburger Festspiele, sind wir angehalten, ein Kunstwerk von höchster inhaltlicher Tiefe und Breite und gleichzeitig höchster künstlerischer Pracht auf die Bühne bringen können.

Dabei dürfen wir zu keinem Zeitpunkt in die Clownerie abgleiten oder das eine zu Lasten des anderen vernachlässigen. Es geht vielmehr um einzigartige, unwiederbringliche Erlebnisse, für die wir als Lehrende die Verantwortung tragen. So wie sich das Klangerlebnis einer großen Symphonie im Konzertsaal im Moment des Erlebens tief in uns einprägt, die Dialoge eines Schauspiels uns im Innersten profund berühren oder das Betrachten eines Gemäldes unbändige Freude oder tiefe Verzweiflung in uns auslöst, dergestalt soll auch unsere Lehre wirksam sein.

Die organisatorischen Rahmenbedingungen der Hochschullehre verändern sich stetig. Neue Methoden wechseln einander ab, und es wohnt der Sache inne, dass auch die Zukunft neue und gänzlich ungeahnte Möglichkeiten schaffen wird. Aber eines bleibt ewig gleich: Wir erschaffen gemeinsam mit unseren Studierenden ein Kunstwerk, das weit mehr ist als bloße Wissensvermittlung.

Sinn nicht "machen", sondern entdecken

Hier sollten wir uns auch jeder Eitelkeit entledigen. Die großen Dirigentinnen und Dirigenten der Musikgeschichte schlagen nicht den Takt. Ihre Zusammenarbeit mit den Orchestern ist ein Setzen von Impulsen, die von den Musikerinnen und Musikern aufgelöst werden. Also sollten wir im Hörsaal nicht bloß technische Anleitungen vorlesen, sondern ein gemeinsames Kunstwerk zulassen. Als akademische Lehrende "machen" wir keinen Sinn. Unsere Studierenden haben bereits Sinn. Es ist unsere Aufgabe, ihnen zu helfen, diesen Sinn, den sie schon in sich tragen, zu entdecken, zu entwickeln und zum Wohle der Gesellschaft nachhaltig zu erfüllen.

Der große Philosoph Martin Buber hat das eindrucksvoll folgendermaßen zusammengefasst: "Betrachte den Menschen mit dem Menschen, und Du siehst jeweils die dynamische Zweiheit, die das Menschenwesen ist, zusammen: hier das Gebende und hier das Empfangende, hier die angreifende und hier die abwehrende Kraft, hier die Beschaffenheit des Nachforschens und hier die des Erwiderns, und immer beides in einem, einander ergänzend in wechselseitigem Einsatz miteinander den Menschen darzeigend. Jetzt kannst Du Dich zum Einzelnen wenden, und Du erkennst ihn als den Menschen nach seiner Beziehungsmöglichkeit; Du kannst Dich zur Gesamtheit wenden, und Du erkennst sie als den Menschen nach seiner Beziehungsfülle."

So gesehen geht die Annahme, dass unsere Tätigkeit Sinn "machen" soll, völlig ins Leere. Wir können gar keinen Sinn "machen". Das hieße ja, dass wir als Einzige einen solchen Sinn in uns trügen, und dass wir ihn wie durch einen Trichter in die Gehirne unserer Studierenden indoktrinieren könnten. Das ist die Falle, in die manche im Hörsaal tappen und dabei das Allerschlimmste anrichten, nämlich die Zementierung der eigenen Engstirnigkeit und das Ersticken jeglicher Neugier. Betritt man den Hörsaal mit der Überzeugung, dass dort ausschließlich Sinn-volle Menschen sitzen, dann ergibt sich ein wunderbarer Dialog. Dann gelingt es uns, den Sinn dieser Menschen strahlen zu lassen.

Vorurteilsfreie Forschung und Lehre für alle Menschen

Als akademische Lehrende vertreten wir unsere humanistische Grundhaltung gegen jeden Widerstand. Die Geschichte lehrt uns, dass diejenigen, derer wir für immer in Ehren gedenken, jene Menschen sind, die sich ungeachtet der politischen Situation, ungeachtet der Verfolgung ihrer Überzeugungen, und selbst angesichts des Todes in den Dienst dieser hohen Aufgabe gestellt haben. Das sind Menschen, die sich von keinem Terrorregime einschüchtern ließen. Erinnern wir uns all der großen Lehrenden und Forschenden, die im Todesregime des Nationalsozialismus vertrieben, verfolgt und bestialisch ermordet wurden. Was damals zerstört wurde, ist kaum zu begreifen. Standhaftigkeit, nachhaltiges humanistisches Wirken und selbstloses Einstehen für eine vorurteilsfreie Forschung und Lehre für alle Menschen, das sollte in unseren Adern fließen als unser Lebenssaft.

Als akademische Lehrende folgen wir dem ethischen Imperativ. Diesen definiert der Kybernetiker Heinz von Foerster so: "Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!" Das ist entscheidend. Unsere Lehrtätigkeit soll öffnen, ermöglichen, Unerwartetes und Neues entstehen lassen und niemals einschränken. Als der Nobelpreisträger Werner Heisenberg im Jahr 1925 auf Helgoland die Grundsätze der theoretischen Quantenmechanik niederschrieb, war er auf dieser stürmischen Insel in der Hitze seines Denkens in der entscheidenden Nacht der Niederschrift zwar körperlich völlig allein, aber er war es doch nicht.

Denn bei ihm waren seine akademischen Lehrer, die das in ihm lodernde Talent gefördert und ihm stets gezeigt hatten, dass die Möglichkeiten des Weiterdenkens unendlich sind. Sie waren beim ihm und stießen das durch ihr ethisches Handeln an, was Heisenberg selbst dann zu Papier brachte, das Ungeheuerliche, das Revolutionäre, eine neue Physik: Darum geht es im ethischen Imperativ, der unsere Lehre bestimmen sollte, nämlich diese sogenannte spukhafte Fernwirkung in den Hörsaal hineinzutragen.

Letztlich sind wir akademische Lehrende große Zauberinnen und Zauberer. Wir entfachen den Zauber, der sich über Generationen und Traditionen hinwegsetzt, der die Zukunft ermöglicht und begleitet. Fortschritt, Wohlstand und Weiterentwicklung des menschlichen Geistes entstammen einer einzigen Quelle: der unbändigen Neugier des Menschen, die unbeeinflusst ist von den Zeitläufen oder von politischen Richtungen. Diese Flamme gilt es ewig leuchten zu lassen.