Vor 25 Jahren wurden die Studentenproteste auf dem Pekinger Tiananmen-Platz niedergeschlagen. Die Triaden aus der Hongkonger Unterwelt retteten damals mit einer Schmuggelaktion viele Verfolgte vor der Rache der KP.
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Peking. Als erstmals TV-Bilder von den rollenden Panzern und zerstörten Barrikaden auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens über die Bildschirme flimmern, sitzt in Hongkong ein Mann mit dem Namen "Bruder Nummer Sechs" vor dem Fernseher. Beim Anblick der getöteten Studenten beginnt er zu zittern: "Ich bin beinahe vom Sessel gefallen. Meine Verwandten mussten mich vor lauter Aufregung in ein Spital bringen", erzählt der heute 70-Jährige, der eigentlich Chan Tat-ching heißt.
Seine Karriere als Pate der Hongkonger Triaden begann 1971, als er selbst vor der Gewalt und dem Wüten der Kulturrevolution fliehen musste: "Ich habe in einer Fabrik gearbeitet, die Mao-Bibeln herstellte, aber als mich die Partei als Konterrevolutionär bezeichnete, musste ich 15 Kilometer von Guangdong nach Hongkong schwimmen, um mein Leben zu retten." In der damals noch britischen Kolonie steigt er zum König der Schmuggler auf, und bei der Niederschlagung der Studentenproteste in Peking ist ihm sofort klar, dass seine Expertise sehr bald gebraucht werden würde.
Und es gibt viel zu tun in jenen Tagen nach dem 4. Juni 1989, die die Geschichte der Volksrepublik China prägen wie kaum ein anderes Ereignis der jüngeren Vergangenheit. In den heißen Frühjahrstagen dieses Schicksalsjahres strömen täglich zornige Studenten zum Tiananmen, dem größten Platz der Welt, um demokratische Rechte wie Redefreiheit und Wahlen einzufordern. Sie sind die Verlierer in einem Land, das zwar freier und wohlhabender ist als je zuvor, das ihnen jedoch wie zu Maos Zeiten schlecht bezahlte Arbeitsstellen ohne Aufstiegschancen zuweist.
Die Hardliner setzen sichin der KP durch
Im April versammeln sich zunächst ein paar hundert Studenten, um den Tod des beliebten Funktionärs Hu Yaobang zu betrauern, der für eine Liberalisierung der Wirtschaft eingetreten war. Mitte Mai demonstrieren bereits Millionen, Studentenverbände werden gegründet, Tausende treten in den Hungerstreik. Für den starken Mann Chinas, den 84-jährigen Reformarchitekten Deng Xiaoping, sind die Proteste ein ungeheurer Gesichtsverlust, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem er Michail Gorbatschow bei einem Staatsbesuch einen "historischen Handschlag" reichen will. Stattdessen stellt der Sowjetchef verblüfft fest: "Ich komme nach Peking, und Sie haben hier eine Revolution!"
Doch die Führung ist gespalten: Während Parteichef Zhao Ziyang die Forderungen der Studenten teilweise für gerechtfertigt hält, führt Premierminister Li Peng die Hardliner an: Er will die Protestbewegung unterdrücken, auch mit Gewalt, und obwohl die Demonstrationen Ende Mai bereits abnehmen, gewinnt er die Oberhand.
In der Nacht von 3. auf 4. Juni rückt die Armee mit Panzern in die Hauptstadt ein und räumt den Tiananmen. Entgegen der weitverbreiteten Darstellung gibt es dort keine Toten, doch speziell die sechs Kilometer weiter westlich gelegene Muxidi-Brücke wird Schauplatz eines Blutvergießens. Über die genauen Opferzahlen gibt es widersprüchliche Berichte: Beijings Stadtregierung meldet 218 tote Zivilisten, ehemalige Demonstranten sprechen von 7000 Toten. Tatsächlich dürfte die Opferzahl im dreistelligen Bereich liegen, doch eine genaue Rekonstruktion ist schwierig, da das Thema in der Volksrepublik bis heute tabu ist. Man spricht hier nur von "dem Vorfall".
Patriarch Deng fordert Strenge für eine "Handvoll Ehrgeizige"
Der Räumung des Tiananmen folgt die Rache der Partei. Zwar bleiben die meisten Studenten straffrei, doch Patriarch Deng fordert Strenge für die "Handvoll Ehrgeiziger", also die Anführer, die auf einer Liste von "21 meistgesuchten Kriminellen" landen. Premier Li Peng verhöhnt sie öffentlich: Die Nummer 1, Wang Dan, habe "sich verdrückt", die Nummer 2, "der Rowdy Wu’erkaixi, den Schwanz eingezogen".
Die Verfolgten haben dazu allen Grund: In den kommenden Wochen und Monaten kommt es zu 27 bestätigten Hinrichtungen - Oppositionelle sprechen von bis zu 500 - sowie mehr als 4000 Verhaftungen.
Nun schlägt die Stunde von Bruder Nummer Sechs, der mit der "Operation Gelber Vogel" die legendärste Rettungsaktion für politische Flüchtlinge nach Hongkong mitorganisierte. Der Mafiosi hat zu jener Zeit die schnellsten Motorboote, kennt alle Schmuggelrouten entlang des Perlfluss-Deltas und umgibt sich mit einem Team verschworener "Brüder", die bereit sind, für ihn zu sterben: "Eine Woche nach dem Massaker trafen mich Demokratie-Aktivisten in einem Hotel und fragten mich, ob ich dabei helfen würde, Studenten aus China zu retten. Ich sagte sofort zu und habe noch am selben Abend einen Fluchtplan ausgearbeitet." Mit diesem können in den kommenden Monaten 133 Flüchtlinge gerettet werden, darunter prominente Anführer wie Wu’erkaixi, Li Lu oder Chai Ling.
"Es war eine seltsame Allianz aus politischen Aktivisten und der Unterwelt, aber sie hat funktioniert", erinnert sich Lee Cheuk-yan, der heutige Anführer von Hongkongs Arbeiterpartei. "Wir hatten als politische Aktivisten keinerlei Erfahrung mit Schmuggelaktionen, also haben wir das Geld aufgetrieben und uns an die Triaden gewandt."
Je berühmter der Flüchtling, desto höher der Preis
Insgesamt kostet die Rettungsaktion fast eine Million Euro, wobei der Löwenanteil der Hilfsgelder aus Frankreich kommt: "Wie alles in Hongkong hatten auch die Flüchtlinge ihren Preis - je berühmter sie waren, desto teurer wurden sie."
Bruder Nummer Sechs und seine Bandenmitglieder führen mit den Behörden in Südchina zunächst ein Katz- und Mausspiel, indem sie die Studenten und Intellektuellen in Lagerhallen und bei befreundeten Bauernfamilien verstecken. Im Schutz der Dunkelheit werden sie auf Speedboote gebracht, wo sie sich unter Deck in eine geheime Nische kauern müssen, bis die rettenden Lichter von Hongkong in Sicht sind. Das geht nicht immer gut: Zwei Männer sterben, als ein Schnellboot mit einem Schiff der Küstenwache kollidiert, ein anderes Team wird vom chinesischen Geheimdienst in eine Falle gelockt und verhaftet.
Bruder Nummer Sechs zieht sich daraufhin von der Operation zurück, und selbst heute geht er auf die Geschehnisse von damals kaum detailliert ein - um andere zu schützen, wie er sagt: "Es ist merkwürdig. Obwohl der 4. Juni 1989 in China offiziell nicht einmal passiert ist, werden sie ihn trotzdem nie vergessen."