Zum Hauptinhalt springen

Die Flucht nach vorn

Von Christine Zeiner

Europaarchiv

Autor von "Deutschland schafft sich ab" kommt Rauswurf zuvor. | SPD zögert mit Parteiausschluss. | Berlin. Wütende Demonstranten, Plakate auf denen "Rassist!" steht und eine Traube von Menschen, die alle ein Autogramm möchten: Thilo Sarrazin wird das noch öfter erleben. Seit Ende der Woche tingelt der 65-Jährige durch die Republik, um aus seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" vorzulesen. | Sarrazin räumt den Posten


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Sarrazin behauptet darin, dass seine Heimat verdummt wegen einer stetig wachsenden Zahl an Muslimen. Künftig, so Sarrazin, werde aber keiner mehr sagen können, hier spreche ein Bundesbankvorstand. Denn anders als erwartet zieht sich Sarrazin mit Ende September freiwillig aus dem Vorstand zurück

Die Sorge von Politik und Bundesbank um das Ansehen der Institution war groß gewesen. Nach mehreren Krisengesprächen und Sondersitzungen hatte schließlich die Bundesbank vor einer Woche verkündet, der Vorstand habe einstimmig beschlossen, beim Bundespräsidenten um die Abberufung Sarrazins anzusuchen - ein Vorstandsmitglied kann nicht einfach vom Bundesbank-Chef gekündigt werden. Sarrazins Vertrag wäre noch bis 2014 gelaufen. Seit 1. Mai 2009 ist der frühere Finanzsenator Berlins im Vorstand -- und eigentlich war erwartet worden, dass er für sein Verbleiben dort klagen wird. Offenbar war es Sarrazin dann aber zu viel geworden. Denn ob Bundespräsident, Kanzlerin oder SPD-Kollegen - sie alle hatten gezeigt, was sie von Sarrazins Äußerungen hielten: nichts. Und groß druckte das Nachrichtenmagazin "Spiegel" sein Portrait auf dem Titelbild und schrieb darunter: "Volksheld Sarrazin. Warum so viele Deutsche einem Provokateur verfallen".

Druck von Politik und Medien wurde zu groß

"Kann ich es mir leisten, mich mit der gesamten politischen Klasse in Deutschland und mit 70 Prozent der veröffentlichten Meinung anzulegen? Diese Situation hält auf Dauer keiner aus", erklärte Sarrazin seinen Rückzug am Donnerstagabend in Potsdam, der ersten Station seiner Lesereise. Außerdem könne er jetzt das Thema weiter beackern, das ihm wichtig sei - die Migrationsproblematik.

Die Erleichterung ist nun groß. Dem Bundespräsidenten wurde eine Entscheidung abgenommen. Und vom Vorstand der Bundesbank heißt es, man habe den Antrag auf Abberufung zurückgezogen: "Beide Seiten werden sich in dieser Angelegenheit nicht mehr äußern." Den Gefallen, erklärte SPD-Chef Sigmar Gabriel, den Sarrazin dem Präsidenten und der Bundesbank gemacht habe, könne er nun auch den Sozialdemokraten tun. Die Parteiführung will Sarrazin eigentlich loswerden. Gleichzeitig aber sinkt die SPD gerade deshalb in den Umfragen: Etliche in der Basis meinen, mit ihren Sorgen nicht ernst genug genommen zu werden. Sarrazin wiederum hat schon vor Tagen erklärt, sein Parteibuch "ins Grab" mitzunehmen.