Zu Hunderttausenden werden sie Europa stürmen. Mit nichts als ihren Kleidern am Leib werden sie kommen und unseren Wohlfahrtsstaat belasten. So wird das Schreckgespenst einer Flüchtlingswelle aus Nordafrika an die Wand gemalt. Von einem Exodus biblischen Ausmaßes war in Italien die Rede; von einer halben Million oder gar einer Million Flüchtlingen gingen Experten in Brüssel aus.
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Doch weiß niemand, ob diese Prognosen eintreffen werden. Und wie viel sie mit Europa zu tun haben werden. Denn die Menschen fliehen zwar: Nach Angaben des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR sind allein in der Nacht zum Sonntag 10.000 Menschen aus Libyen geflohen; mehr als 100.000 haben in den vergangenen Tagen das Land verlassen. Doch sind sie nach Tunesien und Ägypten gegangen. Und während europäische Staaten ihre Bürger ausfliegen lassen, können es sich zehntausende Schwarzafrikaner und Bangladeschis, die in Libyen arbeiten, nicht einmal leisten, sich zur Grenze transportieren zu lassen - geschweige denn eine Überfahrt nach Europa zu bezahlen.
So wird es zunächst vor allem eine Herausforderung für die Afrikaner und nicht für die Europäer, sich um die Flüchtlinge zu kümmern. Ägypten und Tunesien beispielsweise müssen Unterkünfte und Essen zur Verfügung stellen. Seit Jahren schon sind vor allem Afrika und Asien von Fluchtbewegungen von Millionen Menschen betroffen - während einige europäische Staaten darüber diskutieren, wie viel tausend Asylwerber aufgenommen werden sollten.
Italien - wo in den vergangenen Wochen mehr als 6000 tunesische Flüchtlinge eingetroffen sind - ist dennoch besorgt, hat es doch noch die tausenden Menschen gut in Erinnerung, die bis vor ein paar Jahren monatlich auf der Insel Lampedusa gelandet sind, bis Rom Immigrationsabkommen mit Tunesien und Libyen geschlossen hat. Die Kritik vom UNHCR an diesen Verträgen blieb ungehört.
Doch mittlerweile haben sich die Flüchtlingsrouten in die EU sowieso wieder verschoben - und auf die haben aktuelle Konflikte wie in Libyen weniger Einfluss als verstärkte Kontrollen bestimmter EU-Grenzen. Die meisten Migranten kommen nun über die türkisch-griechische Grenze. Was bleibt, ist das kleinmütige Abschieben der Verantwortung unter den Europäern: Wir haben schon so viele aufgenommen, nun seid ihr dran.
Vielleicht möchten Länder rund um das Mittelmeer daher schon jetzt auf ein mögliches Problem aufmerksam machen, mit dem sie später nicht allein dastehen wollen. Vielleicht auch ist die Diskussion um potenzielle Flüchtlinge eine Phantomdebatte. Vielleicht aber werden tatsächlich Menschen auf der Flucht nach Europa kommen. Doch eines ist sicher: Finanziell könnte, moralisch müsste es sich die EU leisten, diese Menschen aufzunehmen und zu versorgen.