Der UNHCR-Chef in Österreich, Christoph Pinter, fordert eine rasche Integration der Asylwerber.
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"Wiener Zeitung": In Österreich werden 2015 rund 70.000 Asylanträge erwartet. Wie lange hält der Flüchtlingsstrom an?Christoph Pinter: Flüchtlingsströme zu prognostizieren ist wie Kaffeesudlesen. Aber wenn man auf die Krisenherde der Welt schaut, gibt es keine Anzeichen, dass die Antragszahlen zurückgehen. Deswegen appellieren wir an alle EU-Staaten, sich darauf einzustellen, dass mehr Menschen nach Europa kommen.
25 Prozent derjenigen, die ihren Antrag in Österreich stellten, wurden in EU-Länder wie Ungarn zurückgeschickt, die eigentlich zuständig wären. Ungarn, vielleicht bald auch Italien, nimmt aber keine Asylwerber mehr zurück.
Hier kommt zum Ausdruck, dass es an Solidarität fehlt. Das zeigten auch die Reaktionen der Staaten auf die Vorschläge der Kommission, verpflichtende Asylquoten einzuführen oder Asylwerber aus Italien oder Griechenland gerecht auf Europa aufzuteilen.
Das heißt, Asyl in der EU bleibt an Ländern wie Österreich, Deutschland oder Schweden hängen.
Es stimmt, dass Länder mit einem gut entwickelten Asylsystem stärker damit konfrontiert sind.
Die kalte Schulter der EU-Partner kann aber auch in Österreich zu einer Entsolidarisierung führen. Gibt es keine Druckmittel?
Rein rechtlich könnte die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einleiten. Entscheidend ist: Wie geht Europa damit um, dass Staaten an der EU-Außengrenze besonders betroffen sind. Man muss auch Ungarn, Griechenland oder Italien helfen.
Das heißt, Sie haben Verständnis für Ungarn, das Zäune an seiner Grenze zu Serbien errichtet und keine Asylwerber mehr von Österreich zurücknimmt, weil das Land seine 60.000 Asylanträge nicht mehr bewältigen kann?
Ja und nein, wobei das Nein größer ist. Zäune dürfen nicht dazu führen, dass Menschen keinen Antrag in der EU mehr stellen dürfen und in Serbien bleiben müssen. Deren Asylsystem ist dafür zu unterentwickelt. Außerdem ist Ungarn ein Transitland. Wenn gesagt wird, dass Ungarn derzeit 3000 Asylwerber beherbergt, muss man dazu sagen, dass ein Großteil der 60.000 Antragssteller gleich weiterzieht.
Ist die EU-Asylpolitik nicht auch deswegen gescheitert, weil die Länder an den Außengrenzen Menschen sowieso weiterwinken?
Ich kenne den Vorwurf, der sich hauptsächlich an Italien richtet. Aber man muss auch sehen: Wenn tausende Menschen vor Lampedusa aus dem Meer gerettet werden, sind die Behörden zunächst mit der ärztlichen Versorgung der Geretteten beschäftigt. Wenn sich dann in der Zwischenzeit manche auf den Weg in den Norden machen, gibt es eben Lücken in der Registrierung.
Wo ist ein Ausweg?
Mir gefallen die Vorschläge der EU-Kommission, mehr Menschen direkt aus Kriegsgebieten aufzunehmen. Diese Menschen werden vom UNHCR als Flüchtlinge anerkannt, aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit ausgesucht und auf die EU aufgeteilt. Dort bekommen sie direkt Asyl (Stichwort: Resettlement). Wobei zu berücksichtigen ist, dass Menschen keine Waren sind, die per Container verfrachtet werden. Vielmehr ist auf die individuellen Bedürfnisse zu achten. Bei 8000 Personen hat das 2014 funktioniert, die EU will auf 20.000 aufstocken. Das würde auch den Schleppern das Wasser abgraben. Auch bei den Ankünften über das Meer könnte man Alternativen finden: Warum landen alle Menschen, die in Lampedusa aus dem Meer gerettet werden, in Italien? Die Rettungsboote könnten andere sichere Häfen in Europa ansteuern.
Zäune, Mauern, Grenzen: Die Festung Europas nimmt Formen an.
Es gibt sie schon längst, denken Sie nur an die Grenzzäune in Ceuta, die Tragödie im Mittelmeer oder den Zaun an der bulgarisch-türkischen Grenze. Dort sind Gebiete teilweise vermint.
Angesichts des kollabierten Nahen Ostens und der EU-Mauern gegen Flüchtlinge: Ist das Asylsystem noch praktikabel oder sollten EU und UNO ihre Hilfe auf die Flüchtlingslager in Grenzregionen, etwa im Libanon, konzentrieren?
Erstens: Die Genfer Flüchtlingskonvention ist und bleibt der Grundpfeiler des Flüchtlingsschutzes. Syrien zeigt, wie wichtig diese ist. Die Staatengemeinschaft hat es verlernt, Konflikte zu beenden. 15 neue kamen in nur fünf Jahren dazu. Zweitens: Die Zahlen für Europa sind mit 650.000 Asylanträgen im Jahr 2014 bei 560 Millionen Menschen auf der Flucht noch immer sehr überschaubar. Drittens: Flüchtlingslager bis zum Sankt Nimmerleinstag an der syrischen Grenze können nicht das Ziel sein. Das Geld der Hilfsorganisationen reicht jetzt schon nicht. 17 Euro bekommen Flüchtlinge in Jordanien pro Monat, um sich Lebensmittel zu kaufen.
Zur Entlastung anderer Länder: Gäbe es eine EU-Quote, würde Österreich diese zu 270 Prozent übererfüllen. Trotzdem gibt es harte Kritik an der "Zeltpolitik". Sind wir Musterschüler oder säumig?
Österreich gehört zu den Staaten mit einem gut entwickeltem Asylsystem. Jetzt steht man vor einer besonderen Herausforderung, weil die Zahlen sprunghaft gestiegen sind. Das ist bewältigbar, wenn alle an einem Strang ziehen. Über die Zelte bin ich nicht glücklich, aber mir ist jedes Zelt lieber, als dass Menschen in Traiskirchen am Boden schlafen.
Die Anerkennungsquote von Asylwerbern lag laut Innenministerium 2014 bei 40 Prozent. Weil mehr Syrer und Afghanen kommen, die meist Asyl bekommen, wird sie deutlich steigen. Dass diese Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren, ist unwahrscheinlich, oder?
Österreich muss sich darauf vorbereiten, dass die Zahl der Flüchtlinge, die dauerhaft in Österreich bleiben, weiter wachsen wird. Deswegen braucht es jetzt Initiativen, diese Menschen zu integrieren. Neben Deutschkursen braucht es Wohnungen und eine Chance am Arbeitsmarkt. Niemand will, dass alle Flüchtlinge Sozialhilfeempfänger werden, am wenigsten die Flüchtlinge selbst.
Es wird argumentiert, wenn Österreich 90.000 Bosnier im Jugoslawienkrieg aufgenommen hat, muss das heute doch locker machbar sein. Aber hatten Bosnier nicht Netzwerke, Freunde, rasch Jobs?
Das ist heute sicher eine größere Herausforderung als die Bosnienkrise, als Netzwerke vorhanden waren, der Kulturkreis ähnlicher war als bei Flüchtlingen aus Syrien oder Afghanistan. Gleichzeitig muss man auch sagen, dass unter Flüchtlingen viele Menschen mit Potenzial sind.
Bei anerkannten Flüchtlingen, die beim AMS gemeldet sind, haben 80 Prozent der Syrer nur Pflichtschulabschluss, Afghanen zu 90 Prozent. Das AMS sagt, die Arbeitsmarktintegration wird schwierig.
Genaue Zahlen kenne ich nicht. Klar ist, dass das Bildungssystem in Afghanistan am Boden liegt.
Braucht es einen zweiten Arbeitsmarkt in Vereinen oder gemeindenahen Einrichtungen für diese Menschen?
Von staatlicher Seite muss einsehen, dass die Menschen hier bleiben werden. Man muss sie als Teil der Gesellschaft sehen und integrieren; falls das nicht gelingt, wird es negative Konsequenzen haben. Es darf keine verlorene Gruppe entstehen.
Zu integrieren sind hauptsächlich junge Männer, die 80 Prozent der Asylwerber stellen. Dass sie ihre Familien nachholen, zeigen die Zahlen nicht. Nur 10 Prozent neuer Asylanträge betreffen Nachzug.
Bei den Afghanen sind es oft junge Männer, die sich auf den gefährlichen Fluchtweg machen. Bei Syrern vervielfachen sich die Anträge von Ehefrauen und Kindern gerade, die nachkommen. In den Flüchtlingslagern an der Grenze zu den Kriegsgebieten ist das Bild umgekehrt: Dort sind mehrheitlich Frauen und Kinder.
Das heißt, die Männer ziehen von dort nach Europa weiter, weil sie Strapazen besser aushalten und Gefahren eher in Kauf nehmen?
Das kommt vor, ja.
Christoph Pinter (43) begann vor 17 Jahren in der Rechtsabteilung des UNO-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR und leitet das Österreich-Büro seit 2011. Er lehrt an der Grazer Karl-Franzens-Uni Asylrecht, hier hat er auch seinen Doktor Juris absolviert.