Zur latenten Kriegsanordnung der öffentlichen Diskurse.
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Scheindebatte nennt sie Jens Jessen in der "Zeit". Die Diskussion um die Flüchtlinge. Scheindebatten sind solche, in denen keine Argumente ausgetauscht werden. Nur Meinungen. Meinungen aber sind jene Vorurteile, die man immer schon hatte. Jene Vorurteile, die sich in den Fakten immer nur selber wiedererkennen. Denen Tatsachen dazu dienen, sich bestätigt zu sehen.
Und in diesem Sinne ist die Diskussion um die Flüchtlinge tatsächlich eine eminente Meinungsmaschinerie. Nehmen wir doch die vorangegangenen Krisen. Etwa Griechenland. Da konnte man nicht so leicht eine Meinung haben. Hatte man natürlich trotzdem. Dennoch aber war eine ökonomische Ahnungslosigkeit doch eine gewisse Meinungseinschränkung. Man konnte sich nicht so leicht einrichten in der Meinung. Ganz ohne Sachkenntnis. Jetzt aber - jetzt ist kein Halten. Jetzt meinen wir alle. Hemmungslos.
Und dennoch. Der Begriff "Scheindebatte" unterstellt, es gäbe auch eine echte, eine richtige Debatte. Und diese wäre dann ein rationales Argumentieren, ein vernünftiges Abwägen. Als wäre die Öffentlichkeit ein Theorieseminar. Tatsächlich aber ist der derzeitige "Clash der Meinungen" keine Scheindebatte. Er ist vielmehr die Form der öffentlichen Auseinandersetzung im viralen Zeitalter. Da schaffen sich Inhalte eigene Umlaufbahnen in den sozialen Medien. Mit eigener Umlaufzeit. Da zirkulieren nicht nur die Inhalte losgelöst von klassischen Medien. Auch die Emotionen sind losgelöst. Von Institutionen, von Sprachregelungen. Von allen Formen des Regulativs. Die freien Kanäle sind keine Kanalisierung. Die Form der Zirkulation, die virale, begünstigt die Entgrenzung der Debatte. Das ist der springende Punkt.
Die Aufhebung des Grenzregimes fand also nicht nur territorial statt. Auch die Diskurse entgrenzen sich. So zirkulieren nun die Meinungen. Unbegrenzt. Bis sie zu einem Strom werden. Zu einem entgrenzten, enthemmten Strom. Der Meinungsstrom zum Flüchtlingsstrom.
Was da aber in den Kanälen der rasanten Transmission fließt, sind Überzeugungen, Fantasien, Suggestionen, Illusionen, Glaubenssätze: Die Situation sei präzedenzlos. Die Situation sei eine oft da gewesene. Die Flüchtlinge seien die neuen Sozialschmarotzer - oder das neue Erlösungsproletariat. Das, was da in den neuen Kapillaren unserer Gesellschaft zirkuliert, sind Emotionen. Emotionen, die sich zu Meinungen verfestigt haben. Und genau deshalb sind die Debatten "binär". Schwarz oder weiß. Dafür oder dagegen. Das ist übrigens keineswegs ein Defizit gegenüber früheren Diskussionen, wie gerne verklärend behauptet wird. "Früher" hatten Emotionen nur die Form des vernünftigen Arguments. Während heute Vernunft eher den blinden Fleck bildet.
Nein, es ist keine Scheindebatte. Eher ein Meinungsaufmarsch in Reinkultur. Unbeleckt von jedem Korrektiv. Auch das, was dieser Form der Zirkulation immanent ist, tritt jetzt deutlich hervor: die latente "Kriegsanordnung" der Diskurse. Ein Thema, eine Kategorie wird zur Demarkationslinie, zur Debattenfront an der entlang sich die Lager bilden. Einem Thema "gelingt" es, die ganze Gesellschaft zu versammeln und zu gruppieren - in zwei Seiten.
Nein, es ist keine Scheindebatte. Es ist vielmehr etwas anderes: eine akute Situation.