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Die Flüchtlingskrise als Chance für die Europäische Union

Von Dimitris Avramopoulos

Gastkommentare

Wieder einmal hat sich gezeigt, dass funktionierende Lösungen für europäische Probleme nur auf europäischer Ebene gefunden werden können.


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Das Jahr 2015 neigt sich dem Ende zu. Der plötzliche Zustrom an Flüchtlingen im vergangenen Jahr hat nicht nur Österreich überrascht, sondern ganz Europa vor außergewöhnliche Herausforderungen gestellt. Vor wenigen Tagen hat die EU-Kommission einmal mehr die Initiative ergriffen und ein Maßnahmenpaket für einen europäischen Grenz- und Küstenschutz verabschiedet, das bis dato seinesgleichen sucht. Auf Basis der politischen Leitlinien, die Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereits im Juni 2014 erstmal präsentiert hat, und die schließlich in den zehn Prioritäten der Europäischen Kommission mündeten, haben wir schon im vergangenen Mai eine Europäische Migrationsagenda vorgestellt, mit dem Ziel, eine faire Lastenverteilung innerhalb Europas zu ermöglichen, nachhaltige Stabilität in den Herkunftsstaaten und unseren Nachbarländern, Hotspots zur geordneten Registrierung und Aufnahme sowie Möglichkeiten zur legalen Einreise für die vielerorts benötigten Fachkräfte zu schaffen.

Faire und solidarische Lastenverteilung

Trotz einer Vielzahl an Lösungsvorschlägen auf europäischer Ebene müssen wir am Ende des Jahres erkennen, dass vieles, was wir geplant, uns gewünscht und erhofft haben, gar nicht oder nicht ausreichend eingetreten ist. Wir müssen erkennen, dass der Friedensprozess in Syrien auch dank der Gespräche in Wien zwar angestoßen wurde, ein erfolgreicher Abschluss jedoch noch nicht in Sicht ist. Wir müssen erkennen, dass nach wie vor Menschen auf der Flucht nach Europa ihr Leben lassen müssen, und dass viele europäische Staaten noch immer nicht in ausreichendem Maße bereit sind, sich ihrer Verantwortung zu stellen, wenn es darum geht, eine faire und solidarische Lastenverteilung zu ermöglichen. Wir müssen auch erkennen, dass der Zustrom von Flüchtlingen rechtspopulistischen Strömungen in ganz Europa Auftrieb gibt, die die Grundfesten der Europäischen Union in Frage stellen.

Vielfalt von Kulturen miteinander vereinigen

Erschüttert wurde Europa neben tausenden toten Flüchtlingen im Mittelmeer auch durch eine Serie von Anschlägen in Paris zu Beginn und am Ende dieses Jahres. Diese Anschläge zwingen uns nicht nur, die Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit und Justiz zu verstärken, sondern werfen auch Fragen nach der Integrationsfähigkeit der europäischen Gesellschaft auf. Ich bin davon überzeugt, dass es Europa gelingen wird, eine Vielfalt von Kulturen miteinander zu vereinigen und diese in einen konstruktiven Dialog miteinander treten zu lassen. Zugleich müssen wir unseren Mitbürgern auch ein gerechtes Maß an Wohlstand bieten können. Nach der Wirtschafts-, Finanz- und Staatschuldenkrise sind derzeit viele Europäer ohne Arbeit, weshalb es die erste Priorität der EU-Kommission ist, wieder Wachstum und Beschäftigung zu schaffen. Die Krise, so bitter und bedrückend sie für so viele von uns ist, darf aber zugleich kein Vorwand sein, um europäische Werte wie die Einhaltung der Menschenrechte, Freiheit, Toleranz und Solidarität zu vernachlässigen.

Es braucht mehr Europa,nicht weniger

Die aktuelle Flüchtlingskrise hat wieder gezeigt - wie das übrigens auch bereits die Wirtschafts- und Finanzkrise deutlich gemacht hat -, dass funktionierende Lösungen für europäische Probleme nur auf europäischer Ebene gefunden werden können. Die EU-Kommission hat die Lage frühzeitig erkannt und entsprechende Lösungsvorschläge vorgelegt. Neben einer Umverteilung und Neuansiedlung von Flüchtlingen und mehr Solidarität in der Bewältigung der Krise benötigen wir auch eine stärkere systematische Sicherung unserer Außengrenzen, um zu gewährleisten, dass nur jene in den Genuss unseres Schutzes kommen, die ihn auch wirklich benötigen. Davon hängt nicht nur die Glaubwürdigkeit des Systems, sondern auch die Effektivität des Schutzes selbst ab.

Mit unserem Vorschlag einer Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenschutz, der eine rasch mobilisierbare Reserve von Grenzschutzbeamten und technischer Ausrüstung sowie ein schnelleres Eingreifen mit Hilfs- und Rettungsmaßnahmen vorsieht, zeigen wir eine Lösung auf. Hinzu kommen die Unterstützungsleistungen für Griechenland und Italien, für die Länder an der Flüchtlingsroute am Westbalkan, aber auch für Österreich sowie der gemeinsame Aktionsplan mit der Türkei, die Einrichtung eines Afrika Trust Fonds und Unterstützung für Syrien, den Libanon und Jordanien.

Gründliche Evaluierung der Dubli- III-Verordnung

Wie im Arbeitsprogramm der EU-Kommission für das kommende Jahr vorgesehen, werden wir auch die geltende Dublin-III-Verordnung einer gründlichen Evaluierung unterziehen und voraussichtlich bis März eine neue Verordnung präsentieren können, die den aktuellen Herausforderungen gerecht wird. Ich bedanke mich bei den Österreichern, den vielen engagierten Helfern und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie der österreichischen Bundesregierung für die Hilfe, die sie jeweils in ihren Bereichen geleistet haben, durch Sachspenden auf Bahnhöfen, Hilfe am Grenzübergang in Spielfeld oder Vermittlung in der Syrien-Krise.

Ob und wie wir alle gemeinsam gestärkt aus dieser Krise wachsen, wird letztlich von uns allen abhängen. Ich wünsche Ihnen in aller Zuversicht schon jetzt ein glückliches neues Jahr!