Avraham Barkai, 78, israelischer Wirtschaftshistoriker, der anstelle von Raul Hilberg in die Historikerkommission zur Erforschung der sogenannten "Arisierungen" in Österreich nach der | Machtergreifung der Nazis im Jahr 1938 und der Entschädigungen nach 1945 berufen worden ist, möchte die Historikerkommission vom Zeitdruck einer notwendigen Lösung der Restitutionsfrage an | Überlebende befreit sehen. Die Restitution müsse unabhängig von den Ergebnissen der Kommission erfolgen.
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"Eine Historikerkommission kann nicht unter dem Zeitdruck arbeiten, daß jeder Tag für noch Überlebende, die Ansprüche geltend machen können, bereits zu spät sein kann und sie möglicherweise den
Abschluß der Arbeiten der Historikerkommission gar nicht mehr erleben werden".
Der Auftrag an die Historikerkommission sei seiner Meinung nach auch zu eng begrenzt, erklärt Barkai zur Ausgangsposition. Es genüge nicht, nur zu untersuchen, was rein territorial auf dem Gebiet der
Republik Österreich passiert sei. Ihm fehlten jene Bereiche, die beispielsweise österreichische Firmen in den damaligen "Ostgebieten", so im besetzten Polen zu verantworten hätten an "Arisierungen",
also Enteignungen, oder bei der Beschäftigung von Zwangsarbeitern. Daher würde Barkai eine Ausweitung des Auftrages an die Historikerkommission sehr begrüßen. Barkai hat bisher vor allem über die
deutsch-jüdische Geschichte, den Nationalsozialismus und den wirtschaftlichen Existenzkampf der Juden im Dritten Reich gearbeitet. Die Nationalsozialismusforschung in der deutschen Bundesrepublik sei
nach 1945 systematisch und mit anhaltender Gründlichkeit erfolgt und werde auf breiter Basis von der Bevölkerung mitgetragen, meint Barkai und berichtet über die vielen lokalen Initiativen, wo
Kommunen, regionale Archive, Museen und Schulen in Geschichtswerkstätten die Spuren ausgelöschter jüdischer Gemeinden suchen und die Erinnerung an sie zu bewahren versuchen. Was ihm bisher an
diesbezüglicher österreichischer Forschungstätigkeit vorliege, scheine ihm im Vergleich bedeutend geringer, sodaß hier wohl ein großer Nachholbedarf bestehe. Den Erfolg der Historikerkommission sieht
Barkai vor allem auch abhängig von den gesetzlichen, finanziellen und personellen Rahmenbedingungen: der Zugang nicht nur zu staatlichen Archiven sondern auch zu Firmenarchiven, und in diesem
Zusammenhang ein gesetzliches Verbot der Vernichtung von Aktenmaterial aus der Nazizeit seien dringend nötig. Weiters brauche man wohl rund 20 bis 25 ambitionierte Historiker, die sich als fulltime
job sich mit der Materie befaßten. Gerhard Jagschitz vom Historischen Institut der Universität Wien habe den nötigen Zeitrahmen für die Kommission auf zumindest drei Jahre eingeschätzt. Es müßten
neben Archiven in Österreich selbst sicher auch ausländische Archive herangezogen werden, vor allem, wenn Firmenarchive nicht mehr ergiebig sind und sich Beweismaterial nur in Erwähnungen von
Drittakten finde. Barkai selbst sieht seine Rolle in der Kommission vor allem in der Beratung, denn rein zeitlich könne er wohl nicht öfter als dreimal im Jahr nach Wien kommen. Er ist in Israel voll
ausgelastet mit seiner Arbeit am Leo-Baeck Institut für Geschichte an der Universität Jerusalem und an der Holocaust-Gedenk- und Forschungsstätte in Yad Vashem, um nur einige Wirkungsbereiche zu
nennen.
Avraham Barkai weiß nicht, wie groß das Interesse der Österreicher an der Erforschung ihrer nahen Geschichte ist, aber er wäre enttäuscht, fühlten sich nachgeborene Generationen vom Ausgraben der
Fakten aus der Nazizeit belästigt. Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Vranitzky-Rede vor fünf Jahren in Israel und auf Bundeskanzler Klimas Erklärung am 9. November dieses Jahres im
Ministerrat über die befreiende Wirkung der Wahrheit. Wenn die Arbeit der Historikerkommission und die Wiederaufnahme der Rückgabeforderungen von beschlagnahmten Vermögen dazu führen sollte,
antisemitische Äußerungen in Österreich zu wecken · wie sie in der Schweiz nach der Aufdeckung der Bankenverwicklung in den Nationalsozialismus in Umfragen zutage traten · dann sei das zunächst nur
der Beweis für das Vorhandensein von antisemitischen Einstellungen. Als Westdeutsche nach dem Fall der Berliner Mauer ihr Eigentum in Ostdeutschland reklamierten, sei das anstandslos akzeptiert
worden. Wenn Juden dasselbe täten, werde argumentiert, sie riefen immer nur nach Geld. Man könne doch nicht denen, die beraubt worden seien, zumuten, auf ihren Anspruch auf Rückerstattung zu
verzichten, um nicht den Antisemitismus zu schüren. Das würde sie zum zweitenmal zu Opfern machen. Der Antisemitismus, wenn er weckbar sei, sei eben existent, und würde sich · wenn nicht bei dieser
Gelegenheit, dann bei einer anderen · bemerkbar machen. Es sei zwar leichter, sich mit der Geschichte des 15. Jahrhunderts auseinanderzusetzen, als mit einem Abschnitt, der noch in der Erinnerung von
Zeitgenossen lebendig sei.
Aber man müsse sich mit der Vergangenheit auf jeden Fall auseinandersetzen, so schwierig das für alle Betroffenen sei, sowohl für die Nachkommen der Täte als auch für die Nachkommen der Opfer. Die
erste Sitzung der Historikerkommission ist für den 26. November anberaumt.