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"Die Frage nach dem Mörder ist sekundär"

Von Irene Prugger

Reflexionen

Der französische Schriftsteller, Philosoph und Krimiautor über die Regeln beim Schreiben von Krimis.


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"Wiener Zeitung": Herr Maurel, darf ich Ihnen eine Frage stellen?

Jean-Pierre Maurel: Ja gern, und jetzt die zweite Frage bitte!

Verstehe, man braucht beim Thema Krimi besonders feine Antennen für Logik . . .

Zumindest wird jedes Wort auf die Waagschale gelegt, denn es kann eine falsche oder richtige Spur bedeuten. Ich bin sicher, dass dieses "genaue Schreiben" ein Grund ist, weshalb so viele Schriftsteller von der Kriminalliteratur fasziniert sind. Das Schreiben eines Krimis ist ein wahres Abenteuer in der Welt der Semiotik, der Symptomatologie, der Hermeneutik und noch in allen möglichen anderen Richtungen.

Muss man als Krimiautor viele Krimis gelesen haben, damit man weiß, wie das Genre funktioniert?

Es genügt, ein paar Krimis gelesen zu haben, denn der Ablauf wiederholt sich: Die Realität ist wie immer, geordnet und beruhigend. Plötzlich geschieht etwas und bringt die Ordnung durcheinander: Ein schreckliches Ereignis, das sich gegen alle Gesetze, alle politischen und sozialen Regeln und gegen das gemütliche Zusammenleben wendet: ein Mord, ein Raub, eine Entführung. Dieses Ereignis drängt nach Aufklärung, weil nur dadurch die Ordnung wieder hergestellt werden kann. Ein Krimi ist immer die Geschichte einer bedrohten Ordnung. Das Chaos ist stets gegenwärtig und kann sich während der Untersuchung noch steigern.

Welche Regeln für das Krimischreiben leiten sich daraus ab?

Ein Verbrechen, eine Ermittlung, das sind die Basisregeln. Ansonsten herrscht bei diesem Genre eine angenehm große Freiheit. Es gibt allerdings ungeschriebene Regeln, die manche Schriftsteller instinktiv anwenden. Agatha Christies Welt z. B. ist voll Aristokraten und reicher Bürger. Das bedeutet auch viele Knechte, Kammerdiener, Kammerfrauen. Aber die Leser wissen, dass sie bei ihrer eigenen Suche nach dem Mörder keine Zeit verlieren dürfen mit dem Dienstvolk. Wäre der Mörder ein Knecht, wäre das im Christie-System ein Hochverrat des Krimigenres.

Allerdings war Agatha Christie zweimal eine Hochverräterin. Im Roman "The Murder of Roger Ackroyd" ist der Täter der Erzähler der Geschichte. Das tut man nicht! Und im Jahre 1946 schreibt sie einen Krimi, den sie in einen Safe sperrt. Dieser Text soll erst nach ihrem Tod herausgegeben werden. In Frankreich erscheint der Roman beim Verlag "Librairie des Champs Elysées" im Jahre 1976 (Christie starb am 12. Jänner, Anm.). In diesem Roman ist der Mörder der Detektiv Hercule Poirot! Das tut man also doch!

Und Ihre eigenen Regeln beim Krimischreiben?

Mir sind die Orte sehr wichtig. Der Mord muss nicht unbedingt in einer dunklen Ecke stattfinden, im Gegenteil. Wenn ich einen Krimi schreibe, der in Wien spielt, kann ich alle Morde auf dem Ring geschehen lassen: Parkring, Opernring, Burgring, Schottenring . . Daraus ergibt sich schon eine spannende Frage: Was hat es mit dem Ring auf sich?

Ich achte auch sehr auf eine Gefahr: die Logik! Viele Krimischriftsteller glauben, es komme auf eine präzise Logik an. Aber wir sind nicht in einem Husserl- Buch - obwohl mir gerade einfällt, dass der Philosoph in "Logische Untersuchungen" die Phänomenologie wie eine Art Kriminaluntersuchung beschreibt . . . Die Krimilogik ist eine reizende, spannende Illusion. Die Schriftsteller dürfen das nicht vergessen, sonst werden sie nur kalte Krimimechaniken verfassen. Die Leser sollen wissen, dass ihr Glaube an die Logik ein Selbstbetrug ist und dass sie dabei mit dem Schriftsteller unter einer Decke stecken.

Diesem Selbstbetrug sitzen so viele LeserInnen auf?

Ein Beispiel: Conan Doyle und sein berühmter Detektiv Sherlock Holmes, von dem Doyle sagt, er sei der "Prinz der Deduktionswissenschaft". Jeder Leser kennt die Eröffnungsszene: Holmes und Doktor Watson sind im Wohnzimmer der bekannten Adresse 221B Bakerstreet, London. Sie schauen beim Fenster hinaus. Ein Mann steigt aus einer Kutsche. "Ein Kunde", flüstert Holmes. "Er ist Kapitän in Pension, seit kurzem verwitwet, und zurück aus Indien, wo er zwanzig Jahre verbracht hat." Dann zählt er fünf oder sechs Indizienbeweise auf: Kleidung, Armbewegung usw. Der Kunde kommt herein und Holmes fragt ihn nach seinem Beruf. "Ich war zwanzig Jahre Kapitän in Indien . . .". Watson, Mund und Nase aufgesperrt: "Holmes!"

Das ist natürlich Unsinn. Wo ist die Logik? Die Indizien können hundert andere Bedeutungen haben. Aber wenn der Kunde diese unmögliche Antwort an Holmes geben würde: "Ich bin Metzger in Piccadilly!" - Was würde passieren? Die Krimistruktur wäre zerstört, außer wir sind in einer Pa-rodie, und die Leser würden deprimiert zurückbleiben.

Stichwort Parodie. Können Sie mit lustigen Krimis etwas anfangen? Oder ist das ein Widerspruch?

Das Ernste und das Tragische gehören nicht zu den Grundregeln eines Krimis, nichts spricht gegen Humor und Ironie. Es gibt viele Beispiele in der Geschichte des Genres: der unübersetzbare französische San Antonio (Frédéric Dard ist sein richtiger Name). Agatha Christie ist voll englischem Humor, der hauptsächlich auf "Understatement" beruht. Es ist für einen Schriftsteller interessant, mit Genre-Regeln zu spielen, sie ad absurdum zu führen. Das kann oft zum Lachen bringen.

Warum ist die Frage "Wer ist der Mörder" in einer fiktiven Geschichte so interessant, dass sie Generationen von Krimikonsumenten zum Weiterlesen bewegen kann?

Im Grunde ist die Frage nach dem Mörder gar nicht so wichtig. Man steigt auf einen Berg, übernachtet auf einer Alm, wo man auf einem Regal ein paar alte Bücher findet - immer Krimis! Man hat sie schon gelesen, egal, mit Freude und Spannung versenkt man sich ins Lesen, auch wenn man weiß, wer der Mörder ist. Mord und Mörder sind nur ein Vorwand, um das eigentliche Thema des Krimigenres zu verstecken. Denn was versteckt ist und versteckt bleiben soll, wirkt umso stärker auf die Leser.

Und was ist das eigentliche Thema?

Die Bedrohung der Realität. Um Spuren eines Mords zu entdecken, muss der Detektiv die Realität so betrachten, dass es schon fast paranoide Züge hat. Es ist doch merkwürdig, dass nach der Erfindung des Krimis (Edgar Allan Poe, Emile Gaboriau, Arthur Conan Doyle, Anton Tschechow), sich das Genre gleichzeitig mit der Entdeckung einer neuen Geistesgestörtheit, der Paranoia (1899 durch Emil Kraepelin, einem deutschen Psychiater) stark entwickelte. Nicht nur Psychiater, sondern auch Philosophen, Soziologen, Historiker benützten sie als Erklärungsprinzip. Der Krimischriftsteller, sein Detektiv und sein Leser sind alle drei Paranoide (oder Eingeweihte der Komplott-Theorie). Der einzige Unterschied zu den echten Paranoiden ist der, dass sie nicht geisteskrank sind (hoffentlich. . .). Dennoch fängt ihre Realität entsprechend den Ermittlungen an zu schwanken, wird vielschichtig und vieldeutig, bis sie verschwindet, zumindest, bis ihre erste öffentliche Schicht verschwindet.

Das sind ja doch sehr komplizierte Voraussetzungen, um einen guten Krimi zu schreiben . . .

Die besten Krimischriftsteller sind jene, die es schaffen, diesen Prozess der sich auflösenden Realität glaubhaft zu inszenieren, wirksam versteckt hinter Mord und Mörder. Jetzt sind wir wirklich tief im Herzen des Krimigenres und beim geheimnisvollen, faszinierenden Gefühl des Krimilesers: wachsende Unruhe, Besorgnis, Angst über die Auflösung der Realität. Außerdem versteht man jetzt, warum das Krimigenre typisch okzidental ist: Gefährdete Realität entwickelt nur dann ihren Reiz, wenn sie sich in einer stabilen Umwelt ausbreiten kann.

Sie haben sich auch aus philosophischer und literaturwissenschaftlicher Sicht mit Krimis befasst. Gibt es einen Unterschied zwischen den klassischen englischen und amerikanischen Krimis?

Die englischen sind eindeutiger. Der Untersucher sperrt eine Tür nach der anderen auf, am Ende ist das Rätsel gelöst. Die amerikanischen zielen mehr aufs Unbewusste und die Ängste. Es bleiben Schatten, Fragen... Man kann das gut nachvollziehen in "The big sleep", ein Kriminalfilm des Regisseurs Howard Hawks nach einem Roman von Raymond Chandler aus dem Jahr 1946 mit Philip Marlowe als Detektiv. Kaum jemand durchblickt die Geschichte, aber es herrscht eine spannungsgeladene, mysteriöse Stimmung.

Auch die Figur des Detektives wird unterschiedlich angelegt. Bei den amerikanischen Krimis gerät der Detektiv zwar unschuldig in die Sache hinein, verliert aber oft die richtige Distanz zum Verbrechen und nähert sich zu sehr dem Bösewicht an. Er kommt nicht unschuldig aus der Geschichte heraus wie die Helden der Wildwestfilme in der großen amerikanischen Tradition, wo die Hauptdarsteller für das Gute kämpfen, leiden und schließlich siegen, sodass die Welt wieder heil ist.

Im englischen logischen Stil ist es für den Schriftsteller besser, den Mörder am Anfang zu kennen. Im amerikanischen Stil ist es nicht notwendig. Die verschiedenen Figuren erscheinen aleatorisch und bauen sich allein, als ob man nach Diktat schreiben würde. Wer diktiert? Die Macht der Fiktion!

Warum gibt es in klassischen englischen und amerikanischen Krimis so selten Detektivinnen?

Detektivinnen sind neuerdings im europäischen Norden stark vertreten, nicht aber in der klassischen amerikanischen und englischen Krimiliteratur, obwohl es berühmte Ausnahmen gibt wie die bereits erwähnte Agatha Christie und ihre Miss Marple. Eine Ursache dafür ist, dass die Frauen solche Berufe erst nach und nach erobert haben. Ein anderer Grund ist, dass in der klassischen Krimi-Literatur die Frau oft selbst die Verführung zum Bösen darstellt. Der Mann glaubt an ihre Liebe, aber sie hintergeht ihn und bringt ihn auch noch um die Ecke, um ihn zu beerben. Diese Frauen sind schön und mysteriös. Meistens haben sie eine Gegenspielerin, die das Gute verkörpert. Es wird also die Licht- und Dunkelseite gezeigt, aber eine Detektivin wäre für Mörderinnen nach diesem Muster nicht der geeignete Gegenpart. Der Detektiv muss in Gefahr kommen, sich in die gefährliche Frau zu verlieben und sich auf die falsche Spur leiten zu lassen. Das bringt zusätzliche erotische Spannung.

Gibt es auch eine typisch französische Tradition, Kriminalromane zu schreiben? Etwa Morde in Dreiecksverhältnissen?

Ja, Morde in Dreiecksverhältnissen sind unsere Spezialität! Aber der typische Charakter des französischen Kriminalromans liegt in der Figur des Kommissars. Der Detektiv besitzt für die französischen Krimileser keine Legitimität. Im angelsächsischen Raum sind die Figuren des Detektivs und des Polizisten getrennt, sogar oft im Konflikt. In Frankreich leben die beiden Figuren in einer Person, das bringt innere Konflikte. Beispiel: Der Untersucher soll in einem Privathaus nachforschen. Als Polizist muss er einen unterschriebenen Hausdurchsuchungsbefehl haben. Als Detektiv glaubt er, dass er sich mehr erlauben darf. Es gibt das Gesetz der Behörde und es gibt einen noch höher stehenden Wert, nämlich alles zu tun, um den Mörder schnell zu fangen. Wie weit darf man auf diesem engen Weg gehen, als Mensch, als Detektiv, als Polizist? Diese Konstellation ergibt sehr vielschichtige Persönlichkeiten, wie etwa den berühmten Kommissar Maigret von Georges Simenon.

Haben Sie einen Lieblingsdetektiv bzw. Kommissar in der Literatur?

Philip Marlowe von Raymond Chandler. Er hat schon fast alles gesehen und ist doch neugierig auf das Leben geblieben. Er lässt sich noch immer faszinieren - vom Bösen und von den Frauen. Für ihn geht es nicht in der Hauptsache darum, dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen, er will verstehen, vor allem sich selbst. Jede seiner Geschichten ist eine Initiation in eine neue Erkenntnisphase.

Hat sich die Krimiliteratur in den letzten Jahrzehnten in eine Richtung entwickelt?

In der Krimiliteratur zwischen 1930 und 1980 ist mir nie untergekommen, was heute fast 50 Prozent des Genres ausmacht: Geschichten über Serienmörder. Auch mit Stephen King kommt es zu einer Zäsur. In seinen Büchern geht es nicht so sehr um subtile Anordnungen und Ahnungen, sondern darum, die Leser mit drastischen Dramaturgien in Angst zu versetzen. King zeigt dabei durchaus literarische Qualitäten. Er ist ein genauer Beschreiber amerikanischer Zustände und seine Mörder und Serienkiller sind interessant, weil ambivalent.

Einer der erfolgreichsten in diesem Fach ist auch James Ellroy, geboren 1948 in Los Angeles. Als er zehn Jahre alt war, wurde seine Mutter ermordet. Ellroy hat später jahrelang nach dem Mörder gesucht, aber dieser wurde nie gefunden. Sein erstes Buch ist eine Abrechnung mit der Los Angeles-Polizei, die den Fall nicht aufklären konnte. Ellroys Krimis sind anarchisch und blutrünstig, und auch seine Mörder sind nicht einfach gestrickt, was zu ihrer Faszination beiträgt.

Der Charme des Bösen zeigt sich auch beim Gentleman-Monster Hannibal Lecter . . .

So viel ich weiß, ist diese Idee - der Charme und die Schönheit des Bösen - in der modernen Literatur zum ersten Mal in Miltons "Lost Paradise" Ende des 17. Jahrhunderts aufgetaucht. Der große englische Dichter stellt Satan als einen schönen Helden dar, nahe der Prometheusfigur. Milton, der erste Romantiker? Jedenfalls hat das Krimigenre viel mit Romantik zu tun. Die Spätromantik sowie die allgemeinen mythologischen Themen, die aus der heutigen Literatur nahezu verschwunden sind, haben im Krimigenre ein neues Leben gefunden.

Als Leser von Fiktion dürfen wir die bösen Helden sogar ein wenig bewundern . . .

Ja, sicher. Wir würden zwar niemals tun, was sie getan haben, nicht nur, weil wir uns nicht trauen, sondern auch, weil wir gut sein wollen. Manche Zuschauer oder Leser verwechseln die Brutalität dieser grausamen Mörder mit Freiheit, die sie sich herausnehmen, aber die meisten von uns sind fasziniert von der Macht, die sie haben. Krimis basieren ja immer auf einem Machtkonzept. Ein Mensch will Macht über einen anderen - und übt diese aus. Die Detektivfigur wiederum sucht Macht über den Mörder oder die Mörderin und der Krimischriftsteller sucht Macht über eine Geschichte. Wahrscheinlich ist er nie so sehr Gott wie beim Schreiben eines Krimis. Du spielst mit dem Bösen, begehst Morde, verschonst andere, die ebenfalls in Gefahr sind. Beim Schreiben eines Krimis bist du zwar nie glücklich, aber du spürst Macht. Auch nicht schlecht!

Irene Prugger, geboren 1959 in Hall, lebt als Autorin und freie Journalistin in Mils in Tirol und ist regelmäßige Literaturrezensentin und Glossistin im "extra".

Jean-Pierre Maurel wurde 1949 in Reutte in Tirol als Sohn einer österreichischen Mutter und eines französischen Vaters geboren. Er studierte Literatur und Philosophie. Er war Philosophieprofessor, dann Journalist, heute arbeitet er als Autor, Lektor und als Kurator für wissenschaftliche Ausstellungen und lebt in Paris. Außerdem hält er Vorträge über philosophische und wissenschaftliche Themen.

Von seinen Kriminalromanen ("Le diable sur la neige", "Le haut vol" und "Règlement"), die alle in Österreich spielen, wurde bisher nur "Règlement" ins Deutsche übersetzt und ist unter dem Titel "Abrechnung" im Innsbrucker Haymon Verlag erschienen. Für eine berühmte französische Krimiserie schrieb Jean-Pierre Maurel als Ghostwriter achtzehn Krimis. Für den Verlag Viviane Hamy schuf er einen Pariser Detektiv namens Malaver, eine Art Ehrerbietung an die klassischen amerikanischen Detektive. Bis jetzt erschienen zwei von Malavers Abenteuern: "Malaver s’en mêle" und "Malaver à l’hôtel".