Landesweit 200 Demonstrationen gegen umstrittene Rentenreform. | Rentenalter soll bis 2018 auf 62 Jahre angehoben werden. | Paris. Frankreich war gestern gelähmt und aktiv zugleich. Landesweit gingen Hunderttausende auf die Straße, um gegen die geplante Rentenreform zu protestieren. Laut Gewerkschaften folgten mehr Menschen ihrem Aufruf als beim Streiktag Ende Juni, als sie zwei Millionen Teilnehmer zählten. Betroffen vom Ausstand waren nationale und internationale Züge, Schulen und Behörden und rund ein Viertel aller Flüge von und nach Paris.
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Der Aktionstag fiel zusammen mit dem Beginn der Parlamentsdebatte über die umstrittene Rentenreform, die eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters von derzeit 60 auf 62 Jahre bis 2018 vorsieht. Sarkozy will damit politischen Mut und reformerische Glaubwürdigkeit beweisen. Die bitter nötigen Punkte auf der Beliebtheits-Skala dürfte ihm sein Ehrgeiz allerdings kaum einbringen. Einmal mehr werfen ihm seine Landsleute vor, in hektischer Hauruck-Manier über ihre Bedenken hinweg zu entscheiden. Dabei hält eine Mehrheit eine Reform für unausweichlich. Mit einem durchschnittlichen Eintritt in den Ruhestand im Alter von 59,3 Jahren ist Frankreich EU-weites Schlusslicht. Ändert sich nichts, fehlen 2020 rund 45 Milliarden Euro in der Rentenkasse. Mit der Reform soll sie bis 2018 saniert sein. Auch die Einzahldauer dürfte auf 41,5 Jahre steigen. Eine Reihe von Privilegien soll wegfallen, die vor allem Angestellte im Staatsdienst treffen.
Vor weiteren Demonstrationen
Für Gewerkschaften und Opposition sind die Pläne ungerecht: Frauen mit Kindern, Menschen mit Berufskrankheiten oder Phasen der Arbeitslosigkeit hätten das Nachsehen. "Jetzt muss die Regierung Eingeständnisse machen", forderte François Chérèque, Führer der Gewerkschaft CFDT, der schon weitere Großdemos in Aussicht stellte. Die Regierung ist verhandlungsbereit bei Ausnahmen für gesundheitsbelastende Berufe oder Menschen, die schon im Jugendalter ins Arbeitsleben eingestiegen sind.
Sachliche Argumente drohen in der Diskussion jedoch unterzugehen. Denn der Mann, den Sarkozy zum Arbeitsminister beförderte, droht zum größten Stolperstein zu werden: Eric Woerth, schwer belastet durch seine Verwicklungen in den Steuer- und Parteispendenskandal um die Milliardärin Liliane Bettencourt. Noch steht die Regierungsmannschaft hinter ihm. Ein Rücktritt Woerths hingegen sähe aus wie ein Schuldeingeständnis.
Diese Zwickmühle der anderen kommt den Sozialisten gelegen, die wie Sarkozy bereits die Präsidentschaftswahl 2012 anvisieren. Doch abgesehen von der Forderung, das Rentendefizit mit höherer Besteuerung unter anderem von Kapitalerträgen zu stopfen, haben sie noch kein schlüssiges Konzept präsentiert. Dass die Rente mit 60, die als Errungenschaft des Ex-Präsidenten François Mitterrand und sozialistisches Symbol gilt, fallen muss, gilt als ausgemacht. Nur auszusprechen wagt es noch kaum einer.