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Die Frau, die zubeißt

Von Stephanie de la Barra

Politik
Wer Feride Saymaz blöd kommt, bekommt Freundlichkeit zurück.
© De la Barra

Gebürtige Türkin wird immer wieder als "Vorbild für Ausländer" gefeiert.


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Wien. Was würden Sie tun? Ein vermummter Mann hält Ihnen ein Messer an die Kehle und verlangt Geld. Ihm das Geld geben oder sich wehren? Bloß nicht wehren, würden die meisten sagen. Aber Feride Saymaz ist anders.

Es war der 5. Dezember, als ein Mann mit Kapuze in ihr Taxi stieg. Sie dachte sich nichts dabei, schließlich war es kalt. "Mexikoplatz" war alles, was er sagte. 18,20 Euro machte die Fahrt aus. Aber statt Geld bekam Feride Saymaz am Mexikoplatz ein Messer an den Hals gesetzt. Mit der anderen Hand hielt der Mann ihr den Mund zu. Still sein? "Ich habe ihn in die Finger gebissen, fest, immer fester, dann habe ich die Tür aufgerissen und bin aus dem Auto gesprungen", erzählt die 66-Jährige. Die Polizei war kurze Zeit später da, aber der Täter war in die Nacht verschwunden.

Feride Saymaz hätte ein leichtes Opfer sein sollen. Eine alte Frau mit feinen Falten im Gesicht, wie schmale Risse eines Felsens, geformt und gezeichnet. Sie ist klein, fast unscheinbar, aber trotzdem nicht zu übersehen, durch ihr buntes Kopftuch. Als würde sie immer tiefer in den Fahrersessel ihres Taxis rutschen und nur die Haarbedeckung von ihr übrig bleiben. Viele reduzieren sie darauf: türkische Frau, Kopftuch, wehrlos.

"Kannst du mir einen Brief schreiben?"

Seit bald 22 Jahren fährt Saymaz ihr Taxi. Ein Motto hat sie ihr Leben lang immer begleitet: Wer kämpft und hart arbeitet, setzt sich durch.

Ihre Biografie macht das deutlich. Schon als Mädchen in der Türkei aufgewachsen, hatte sie sich einmal gefragt: "Warum immer ich?" Warum musste die Mutter im Dorf krank werden und sie nun die ganze Verantwortung übernehmen? Auf die kleine Schwester aufpassen und für die Tiere sorgen, statt zur Schule zu gehen. Nur sechs Wochen hatte sie die Schule besucht, Schreiben hatte sie nicht gelernt. Mit 15 Jahren kam sie nach Istanbul und arbeitete als Haushälterin in einer Großfamilie, bis eines Tages ein Brief aus dem Dorf kam. Aber Feride Saymaz konnte ihn weder lesen noch beantworten.

"Ahmed", fragte sie den Sohn der Familie, der die 3. Klasse besuchte. "Kannst du mir einen Brief schreiben?" Er blaffte: "Hast du keine Hände?" Da begriff sie: Sie musste sich selbst helfen. Jeden Abend legte sie Papier auf ihren Kopfpolster und begann alles aufzuschreiben, was sie an dem Tag gehört hatte. Meist aus dem Fernseher. Dann verglich sie die Wörter mit jenen aus der Zeitung. So lernte sie schreiben.

Mitte der Sechziger Jahre dann bekam sie von ihrem Schwager eine Einladung nach Österreich. Gastarbeiter wurden gesucht. Sie arbeitete zuerst mit ihrem Mann in einer Kartonagefabrik in Wien, dann wurde sie schwanger. Sie bekam zwei Kinder, begann 1974 als Hausbesorgerin und bekam vier Jahre später eine Stelle in einem Architekturbüro. 17 Jahre war sie dort beschäftigt, bis das Büro verkauft wurde. "Dann hab ich mit dem Taxifahren angefangen", erzählt sie.

"Heute sind Ausländer nichts mehr wert"

Nach 22 Jahren liebt sie den Beruf noch immer. Zwei bis drei Mal pro Woche steckt die Fahrerin das gelbe Taxi-Schild aufs Autodach und dreht ihre Runden durch die Bezirke. Eine Frau hinter dem Steuer und dann auch noch mit Kopftuch. Das ist für viele ein Feindbild. Damals wie heute.

Dabei war Saymaz nicht immer Kopftuchträgerin. Ihre Tochter ist eines Tages von der Moschee nach Hause gekommen und hat gesagt: "Mama, wenn ich heirate, dann werde ich ein Kopftuch tragen. Und du auch." Eine Woche nach der Hochzeit saß die Tochter mit Kopftuch im Wohnzimmer der Eltern. Wie sieht das aus, die Tochter trägt ein Kopftuch und die Mutter nicht? "Da habe ich auch begonnen. Zuerst meiner Tochter zuliebe, später aus religiösen Gründen", sagt sie. Doch erst nachdem sie in Mekka gewesen war. Mit ihrem türkischen Mann hatte diese Entscheidung nichts zu tun. Weder das Kopftuchtragen noch das Taxifahren. "Nimm doch abends das Kopftuch im Taxi herunter und verstecke es unter der Jacke", hat ihr Mann nach dem Überfall gesagt. "Ich habe Angst um dich." Feride Saymaz wird das nicht tun. Sie mag das nicht, einmal so und einmal so. Aber sie weiß, was er meint.

"Früher schon waren die Gedanken der Leute schlimm, aber heute ist es schlimmer", sagt sie. "Heute sind Ausländer nichts mehr wert", meint sie. Neulich sei ein Kollege zu ihr an die Fensterscheibe getreten und habe gebrüllt: "Nimmst uns die Arbeit weg, Ausländer, geh ham!" Da hat sie verwundert geschaut. "Ich bin daheim, gehen Sie auch heim." Saymaz lässt sich nicht beleidigen, aber schreit auch nicht zurück. Hass kann nicht mit Hass überwunden werden, davon ist sie überzeugt. Deshalb hat sie auch keine Angst vor ausländerfeindlichen Wahlkampagnen oder sonst irgendjemandem. "Das ist alles nur Propaganda." Wer ihr blöd kommt, bekommt Freundlichkeit zurück.

Deshalb wird sie auch gerne medial als gelungener Integrationsnachweis präsentiert, als Gegenargument zu bestehenden Schwierigkeiten quasi. Aber schafft man damit nicht auch ein Gefälle zwischen Migranten, je nach dem vermeintlichen Grad ihrer Integration? Man kann das schlecht finden. Saymaz hat damit kein Problem. Vergangenes Jahr wurde sie von der 40100-Taxizentrale zum zweiten Mal zur "Besten Taxilenkerin Wiens" gekürt. "Natürlich gefällt mir das. Ich war auch in der Barbara-Karlich-Show." Da ging es auch um Integration. Als "großes Vorbild für Ausländer" wurde sie da gelobt.

Zeit, die Lebensgeschichte aufzuschreiben

Vielleicht brauchen die Österreicher ein solches Idealbild. Feride Saymaz versteht den Rummel nicht so ganz. Ein Kind habe sie einmal gefragt, wie sie es geschafft habe, so berühmt zu werden. "Ich bin doch nicht berühmt", antwortete sie bestimmt, "ich habe nur gearbeitet."

Feride Saymaz sitzt in ihrem grauen Taxi am Standplatz nahe der Triesterstraße und wartet auf Kunden. Seit der Krise läuft das Geschäft schlechter. Die Wiener sparen an allen Enden, die man nicht unbedingt zum Leben braucht - Taxifahren gehört dazu. Sie nimmt einen A4-Block und einen Kugelschreiber zur Hand und beginnt zu schreiben, wie damals als Fünfzehnjährige. "Ich schreibe mein Leben auf", sagt sie und blättert mit ihren knochigen Fingern durch die auf Türkisch beschriebenen Seiten. Es soll ein Buch werden.

Bei Seite 24 macht sie halt. "Ich bin hier gerade in Istanbul bei der Großfamilie angekommen, es sind meine ersten Tage." Es sind jene Tage, die sie zu dem Menschen formen, der sie in Wien einmal werden sollte. Selbstbewusst, mutig und anpassungsfähig. Der Name "Feride" bedeutet auf Türkisch übrigens: die Einzigartige, die Besondere.