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Die Freiheit, die sie meinen

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Politik

50 Jahre nach Martin Luther Kings Rede bahnt sich in den USA eine neue Form des Rassismus ihren Weg.


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Washington. Die guten Nachrichten zuerst: Der 28. August 1963 hat sich aus all den richtigen Gründen ins kollektive Gedächtnis der amerikanischen Nation eingebrannt. Seit der in der Washington Mall vorgetragenen Formulierung des King’schen Traums - wiewohl erst auf beharrliches Einflüstern eines Kampfkameraden mit einem guten Gefühl für die Bedürfnisse der Masse hin geäußert ("Martin, you need to tell them about the dream.") -, gab es kein Zurück mehr, was den prinzipiellen Kurs der Gesellschaft und der Politik in Sachen Gleichberechtigung angeht. Seinen Rassismus offen vor sich herzutragen war nach Martin Luther Kings Postulat nicht mehr akzeptabel, zu groß war der Schock über die Wirkung der Worte des afroamerikanischen Pastors bei Fans (im positiven Sinn) wie Feinden (im negativen).

Davon abgesehen, dass es sich beim diesjährigen Jubiläum um ein rundes handelt und die Aufmerksamkeit der großen Medien des Landes entsprechend abgerichtet ist, werden von linken wie rechten Politikern die ewig gleichen Rituale wiederholt.

Die Republikaner und ihre Parteigänger mühen sich nach Kräften, ihre historische Rolle im Kampf um die Bürgerrechte für Afroamerikaner zu betonen, mit dem allzu offensichtlichen Ziel, von dem heute in ihren Reihen grassierenden offenen (weniger) und subkutanen (mehr) Rassismus abzulenken, den die Wiederwahl Barack Obamas an die Oberfläche geschwemmt hat.

Die Demokraten üben sich - nachdem sie betont schamhaft über ihre historisch verbürgte Schuld referiert haben - in der Aufzählung der Fortschritte, die seitdem gemacht wurden und die - der parteipolitischen Logik gemäß - ausschließlich ihnen zu verdanken sind. Stimmt schon; ohne den Mut eines Lyndon B. Johnson, mit seiner Unterschrift unter den Civil Rights Act den Süden für mindestens drei Generationen zu vergraulen, das Rückgrat eines Jimmy Carters, der die Wählmänner unterhalb der Mason-Dixon-Linie nicht mit den bis Anfang der Sechziger üblichen Methoden bei der Stange zu halten versuchte, und der Courage eines Bill Clinton, neue, Ethnien und Generationen übergreifende, Koalitionen zu bilden, gäbe es keinen auf breiter Basis wahrgenommenen Fortschritt (und damit keinen Präsidenten Obama).

Aber Klischees werden halt am Ende des Tages nicht zu solchen, weil das Gegenteil von ihnen stimmt. Das Klischee von den USA als einem gesellschaftspolitisch tief zerrissenen Land hat deshalb gestern wie heute seine Gültigkeit. Und die Tatsache, dass das Einzige, was dieses Klischee aufzubrechen vermag, die sich durch die stetige Zuwanderung wandelnde Demografie ist, erzählt eine Geschichte, die so ganz und gar nicht zu der populären These passt, dass die USA liberaler geworden sind.

Nur Rechte, keine Pflichten

Die Wahl des ersten afroamerikanischen Präsidenten hat rezeptionstechnisch viel überdeckt, während sie aber gleichzeitig die offenen Wunden der Landesmitte freilegte. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass heute westlich des Hudson und östlich des Colorado River mit satten Mehrheiten ausgestattete rechte Gouverneure im Einklang mit republikanisch dominierten Bundesstaatsparlamenten ein Gesetz nach dem anderen verabschieden, das den Wahlgang für Minderheiten so schwierig wie möglich machen soll. In Texas ist es heute leichter, mit einem Waffenschein als wahlberechtigter Bürger beglaubigt zu werden als mit einem Studentenausweis; in Florida sperrt man regelmäßig so lange wie möglich die Wahllokale nicht auf, um die sogenannten "Early Voters", die tendenziell liberal wählen, zu entmutigen.

Wenn heute im politischen Diskurs Amerikas die Rede auf die Freiheit kommt, wird - gar nicht mehr im King’schen Sinne - nahezu ausschließlich über die mit ihr einhergehenden Rechte geredet. Das hört sich dann ungefähr so an: Dank des genialischen Wesens und strategischen Geschicks der Gründungsväter leben wir als freie Menschen in einem freien Land und besitzen Dinge, um die uns der Rest des Planeten beneidet - und das schon seit Ende des 18. Jahrhunderts. Punkt.

Von etwaigen Pflichten, die mit der amerikanischen Freiheit einhergehen, ist nie die Rede. Eine gefährliche Entwicklung in einem Land, dessen Bürger, anders als die Mehrheit der europäischen Staaten, keinerlei Erfahrung mit den Mechanismen totalitärer politischer Systeme hat. Wirklich gefährlich ist heute in diesem Kontext vielleicht weniger die moderne Brut "versteckter offener" Rassisten, die immer noch eine Unzahl wichtiger öffentlicher Ämter bekleiden (vom Gemeinderat bis zum Supreme Court, wo heute Leute wie der Neofaschist Antonin Scalia oder ein Clarence Thomas sitzen, die rechtsauslegerische Entsprechung des servilen, unterwürfigen Onkel Tom aus dem Roman von Harriert Beecher Stowe), als die selbsternannten Kämpfer für jene Freiheit, die die Schreiber der Verfassung einst angeblich meinten.

Die sogenannte libertäre Strömung innerhalb der Republikanischen Partei, personifiziert durch Ron Paul und seinen Sohn Rand (zwei weiße Ärzte), gewinnt seit Jahren vor allem unter jungen Amerikanern an Zulauf, weil sie sich die Abschaffung sämtlicher die bürgerlichen Freiheiten einschränkenden Gesetze zum Ziel gesetzt hat. Unter der - ernst gemeinten - Annahme, dass jeder/s in die amerikanische Welt gesetzte Junge oder Mädchen die gleichen Chancen auf ein glückliches Leben vorfindet, fordern die Libertären Maßnahmen wie die Freigabe aller illegalen Drogen oder die Abschaffung des Überwachungsstaats.

Keine Grenzen der Freiheit

Die Kehrseite, über die die Apostel der Freiheit, die sie meinen, nur ungern reden: Ebenso wollen Paul und Co. jene Gesetze abgeschafft wissen, die offen angewandten Rassismus und Sexismus unter Strafe stellen. Freiheit bedeutet für diese Leute eben auch die Freiheit, andere aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung benachteiligen zu dürfen. Auch das ist Amerika, 50 Jahre nach "Ich habe einen Traum." PS: Frauen und Menschen, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, standen damals in der Washington Mall nicht am Podium.