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Der kenianische Philosoph Reginald Oduor, der seit früher Kindheit blind ist, hält die Formen der europäischen liberalen Demokratie für Afrika nicht geeignet. Notwendig sei in Afrika eine Form der Demokratie, die ethnisch fundiertes politisches Denken berücksichtigt.
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"Wiener Zeitung": Würde ich Ihre Großmutter fragen, ob Sie sich eher als Angehörige ihrer Ethnie oder als Kenianerin betrachtet, wie würde ihre Antwort lauten?Reginald Oduor: Sie würde sicher antworten, dass sie eine Luo ist - viel mehr als eine Kenianerin. Kenia ist für sie etwas, das sehr fern von ihr liegt, etwas, das mit dem Kolonialismus zusammenhängt, mit Geschehnissen, die sie nicht versteht. Aber als Luo kennt sie ihre Herkunft und ihre Vorfahren.
Und ist diese Haltung typisch für Kenianer?
Ja, durchaus. Sie fühlen sich ihrer Ethnie sehr zugehörig, weil das Teil einer Jahrhunderte alten Kultur ist. Kenianer wurden sie aber erst durch die Kolonialzeit. Das heißt nicht, dass sie es ablehnen, Kenianer zu sein, und besonders manche Städter fühlen sich Kenia immer mehr zugehörig. Aber der Großteil der Bevölkerung lebt noch immer in ländlichen Gebieten und definiert sich vor allem über die Ethnie.
Warum sind die Menschen so stark in ihrer Ethnie verwurzelt?Afrikaner denken in Kategorien der Gemeinschaft. Das gemeinsame Leben basiert auf der Familie. Diese geht weit über Mutter, Vater und Kinder hinaus und inkludiert alle Neffen, Cousins und weitere Angehörige. Eine gewisse Anzahl von Familien bildet einen Clan, und eine gewisse Anzahl an Clans bildet eine Ethnie. Und diese führt ihre Herkunft auf gemeinsame Vorfahren zurück, die Kikuyu etwa sagen, sie stammen von dem Mann Gikuyu und Frau Mumbi ab, die Luo wiederum sehen Ramogi als ihren Urvater an. Aber Kenia hat kein gemeinsames Erbe, es ist ein Flickenteppich aus verschiedenen ethnischen Gruppen, denen plötzlich gesagt wurde, dass sie von nun an eine politische Einheit bilden.
Was bedeutet das für Wahlen?
Bei Wahlen achten die meisten Leute nicht sonderlich auf politische Programme, sondern vor allem darauf, dass ihre ethnische Gruppe möglichst viel politische Macht ergreift. Wähler sehen einen Kandidaten ihrer Ethnie als ihren Bruder an. Sie können damit rechen, dass ihre gesamte ethnische Gruppe profitiert, wenn ihr Kandidat gewinnt. Politiker sprechen zwar davon, wie sie die Wirtschaft verbessern oder neue Jobs schaffen wollen, aber das ist nur eine Schimäre. Sie können es nicht wagen, offen auszusprechen, dass sie vor allem als Kandidat einer Ethnie antreten (die Verfassung verbietet politische Gruppierungen auf ethnischer Basis, Anm.), aber wir Kenianer wissen alle, dass es genau darum in Wirklichkeit geht.
Welche Auswirkungen hat das auf das Land?
Ich habe vor allem vier Auswirkungen identifiziert. Erstens: Es gibt eine große Ungleichheit in der Entwicklung einzelner Landesteile. Die Siedlungsräume von ethnischen Gruppen, die einen Präsidenten stellten, sind viel besser entwickelt als andere Regionen. Zweitens: Es entsteht keine Politik, die sich um thematische Streitfragen dreht, stattdessen haben wir einen ethnisch motivierten Personenkult. Drittens: Es kommt immer wieder zu Gewalt zwischen den Ethnien, was ja etwa 2007 die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Kenia gelenkt hat (damals stritten nach der Präsidentenwahl Mwai Kibaki, ein Kikuyu, und Raila Odinga, ein Luo, um den Sieg, was zu Ausschreitungen mit schätzungsweise 1500 Todesopfern führte, Anm.). Viertens: Angehörige ethnischer Minderheiten und Leute, die ethnisch gemischten Ehen entstammen, werden benachteiligt. Wenn etwa ein Kikuyu und eine Luo verheiratet sind, kommen sie bei politischen Streitigkeiten zwischen diesen Ethnien schwer unter Druck, werden der Mann und die Frau von den Angehörigen ihrer Ethnie als Verräter bezeichnet, und ganz schlimm ist es auch für ihre Kinder. Und die Angehörigen ethnischer Minderheiten haben am Arbeitsmarkt keine einflussreichen Fürsprecher und bleiben deshalb auf der Strecke.
Wie definiert sich eine Minderheit in Kenia? Es gibt ja keine Ethnie, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht.
Nach dem Zensus von 1989 waren die Kikuyu die größte Gruppe mit 21 Prozent, gefolgt von den Luhya (14 Prozent), Luo (12 Prozent), Kalendjin (12 Prozent) und Kamba (11 Prozent). Die großen Fünf machen zusammen rund 70 Prozent der Bevölkerung aus, andere große Gruppen sind die Kisi (6 Prozent), Meru (5 Prozent) und die Mijikenda (5 Prozent), sie machen 16 Prozent der Bevölkerung aus. Es verbleiben noch 34 kleine ethnische Gruppen. Keine Gruppe ist groß genug, um die anderen zu dominieren, aber die "großen Fünf" formen oft untereinander Koalitionen und kommen so an die Macht. Die 34 kleinen Gruppen haben dazu nicht die Möglichkeit, weil sie einfach zu wenig Wähler mitbringen und daher zu bedeutungslos sind. Sie sind deshalb unsere Minderheiten.

Kann das politische System so weiter funktionieren?
Nein. Wir haben eine Verfassung, die auf einer liberalen Demokratie basiert. Die Leute sollen den besten Kandidaten wählen und dabei ethnische Zugehörigkeiten nicht beachten. Aber für den Großteil der Kenianer ergibt das keinen Sinn, sie wählen nach ethnischen Interessen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, wir müssen uns von der liberalen Demokratie lossagen und sie durch eine kommunalistische Demokratie ersetzen. Traditionelle afrikanische Gesellschaften kennen den Kommunalismus. Kommunalismus bedeutet in diesem Kontext, dass sich die Leute durch und durch mit dem Gedanken verbunden fühlen, dass Leben Zusammenleben bedeutet, als Gemeinschaft, als Familie. Somit sollten wir eine Verfassung haben, die dieses Faktum berücksichtigt, anstatt es zu ignorieren.
Gilt das auch für andere afrikanische Länder?
Ja, meiner Meinung hat sich die liberale Demokratie in Afrika als Fehlschlag erwiesen. Wir haben sie nach der Unabhängigkeit probiert, und dann in einer zweiten Generation von Verfassungen, und es hat wieder nicht funktioniert. Uganda hatte eine liberale Verfassung und ein Mehrparteiensystem, und gleich kam es zu einem Machtkampf zwischen dem Premierminister und dem König der Ethnie der Buganda, der gewisse Vorrechte durch die Konstitution besaß. Nigeria hat mit einem Föderalismus ähnlich dem kenianischen gestartet, doch schon bald nach der Unabhängigkeit gab es den ersten Putsch, auf den weitere folgten, bis sie wieder zur Demokratie zurückkehrten. Wir könnten die Aufzählung weiter fortsetzen, das ist die Geschichte der afrikanischen Länder.
Ein guter Vergleich stammt vom britischen Philosophen John Stuart Mill, der ihn freilich in einem anderen Kontext gebraucht hat: Ein Individuum darf nicht gezwungen werden, etwas zu sein, was es nicht ist. Das ist, wie wenn man zum Schneider geht, er deine Maße ausmisst, und wenn du zurückkommst, ist der Anzug zu klein. Der Schneider kann an deinen Maßen nichts ändern, er muss dir also einen größeren Anzug machen. Ich sage aber: Der Anzug der liberalen Demokratie ist nicht nur kleiner, sondern überhaupt von einer ganz anderen Form als das afrikanische Denken über Politik. Somit sollte Afrika von diesem Anzug befreit werden.
Was bliebe dann aber von der Demokratie noch übrig?
Ich plädiere dafür, dass afrikanische Gelehrte beginnen, die Essenz der Demokratie zu suchen, also das, was wir nicht verlieren dürfen, um noch Demokratien zu sein. Meiner Meinung nach zählt dazu die Teilhabe, dass die Bürger ihre Meinungen laut aussprechen können und diese beachtet werden. Aber Details, nämlich etwa die Art, wie wir unsere Repräsentanten bestimmen, können wir vom westlichen Modell abtrennen. Warum schaffen wir kein System, in dem wir die Macht fairer verteilen, alle daran beteiligen, etwa durch Würdenträger der Ethnien, oder durch Repräsentanten, die die einzelnen Ethnien gewählt haben? Es gibt etwa den Vorschlag, dass wir eine eigene Form der Präsidentschaft einführen, wobei sich die Würdenträger aller ethnischen Gruppen im Amt abwechseln. Der Kampf zwischen den Ethnien, sich das Präsidentenamt zu sichern, würde ein Ende finden.
Aber je mehr man sich auf Ethnien in der Politik konzentriert, desto mehr riskiert man, einen Keil zwischen sie zu treiben. Besteht nicht die Möglichkeit, die Ethnisierung der Politik zu überwinden?
Nein. Die Leute denken nun mal in ethnischen Kategorien, sind, wie sie sind, und können nicht gezwungen werden, sich zu ändern. Wenn wir das Faktum der Ethnizität ignorieren, dann werden wir immer mehr davon eingenommen, aber wenn wir es anerkennen, dann können wir ganz offen Lösungsansätze schaffen. Wenn wir versuchen, aus Afrika einen Kontinent ohne ethnisches Bewusstsein zu schaffen, dann töten wir Kulturen. Afrika hat schon an der Gewalt des Kolonialismus gelitten, warum sollte es jetzt auch noch daran leiden, dass den Leuten ihre Kultur geraubt wird? Und auch Europa ist übrigens nicht ethnisch blind. Länder wurden - und ich verwende absichtlich diesen frechen Ausdruck - aufgrund von Stämmen gebildet. Oder nehmen wir Großbritannien: Immer wieder haben die vier Stämme, die Engländer, die Schotten, die Waliser und die Iren sich bekämpft. Wenn sie ihre Kontroversen haben, ist aber nicht von Tribalismus oder Rückständigkeit die Rede - wenn Luo und Kikuyu ihre Kontroversen haben aber sehr wohl! Das erachte ich als eine Auswirkung des Rassismus.
Aber in Tansania etwa gibt es viel weniger ethnische Trennlinien als in Kenia, weil dort der erste Präsident Julius Nyerere ein tansanisches Gemeinschaftsgefühl geschaffen hat. Ist das nicht auch eine Möglichkeit für Kenia und andere Länder?
Dass die ethnischen Spannungen in Tansania geringer sind, liegt aber nicht an der liberalen Demokratie, sondern dass dort ein afrikanischer Sozialismus praktiziert wurde, der ja schon ein kommunalistischer Zugang ist. Nyerere war ein Kommunalist, kein Liberaler. Afrikaner sehen sich selbst in Familien eingebunden, und Nyerere hat das dahingehend modelliert, dass er von einer großen tansanischen Familie sprach. Er hat damit eine Grundlage für das Vertrauen zwischen den ethnischen Gruppen geschaffen, was in Kenia aber nicht geschah. Nun ist es zu spät. Es gibt Momente in der Geschichte, die nicht mehr wiederkehren, wenn man sie verpasst hat. Und in diesem Fall war das die Unabhängigkeit. Wenn man einem Menschen als kleines Kind nicht Tischmanieren beigebracht hat, kann man seine Manieren nicht mehr ändern, wenn er alt ist. Ich sage freilich nicht, dass wir keine Tischmanieren haben, aber dass die Kenianer sich schon längst angewöhnt haben, Politik auf ethnischer Basis zu betreiben. Wir werden das nicht mehr ändern.
Es ist übrigens auch nicht so, dass Herkunft in Tansania keine Rolle spielt. So wechseln sich dort gewöhnlich Moslems und Christen im Präsidentenamt ab. Sie erkennen Differenzen an und schaffen so Stabilität. In Kenia wird uns gesagt, wir sollen als Präsidenten den geeignetsten Kandidaten auswählen. Aber - welch eine Überraschung: drei von bisher vier Präsidenten entstammen der größten Ethnie, den Kikuyu.
Aber droht das Individuum nicht unter die Räder zu kommen, wenn so viel Fokus auf die Ethnie gelegt wird?

Das ist tatsächlich ein Problem in dem Modell, das ich zu entwickeln versuche. Es besteht die Gefahr, dass ethnische Gruppen, wenn sie viel Autonomie erhalten, eine interne Diktatur errichten und ihre Mitglieder im Namen der ethnischen Zusammengehörigkeit unterdrückt werden. Deswegen müssen wir bei aller Anerkennung eines afrikanischen Kommunalismus uns auch Elemente aus dem Liberalismus leihen - eben um das Individuum zu schützen.
Was ist mit denen, die sich nicht ethnisch definieren wollen?
Es geht ja nicht um ein rein ethnisches Modell, sondern darum, dass Themen, die mit der Ethnie zusammenhängen, Raum erhalten. Genau deshalb brauchen wir auch Elemente des Liberalismus. Der Liberalismus selbst ist übrigens auch älter als die liberale Demokratie. Die liberale Demokratie sitzt auf seinem Rücken. Und auch wenn ich die liberale Demokratie ablehne, gilt das nicht für den Liberalismus an sich, der ja für die Freiheiten des Individuums eintritt. Eine dieser Freiheiten ist aber auch, ethnisch zu denken.
Aber es würde ja nicht reichen, nur das politische Modell zu verändern. Auch im wirtschaftlichen Bereich gibt es harte Verteilungskämpfe.
Politik und Wirtschaft hängen ganz eng zusammen. Die kenianische Politik funktioniert im Moment so: Wer an der Macht ist, hat den Zugang zu den Ressourcen. Wohl überall in der Welt ist eine Wahl ein Kampf um Ressourcen, doch noch vielmehr gilt das für Afrika. Unsere Wirtschaften sind jung und schwach. Wenn alle ethnischen Gruppen stärker am Staat beteiligt werden, würden auch die Ressourcen gerechter verteilt - und das würde Spannungen drastisch reduzieren.
Konnte die liberale Demokratie, die Sie abschaffen wollen, in Afrika überhaupt Wurzeln schlagen? Viele Länder waren ja lange Zeit Diktaturen.
Aber die Diktaturen wurden gerade von der liberalen Demokratie produziert. Ich weiß, das ist eine schockierende Aussage, also lassen sie mich sie erklären: In Kenia hatten wir nach der Unabhängigkeit eine Verfassung, die ein Mehrparteiensystem und Demokratie vorsah. Dann kam Jomo Kenyatta an die Macht und aus Kenia wurde ein Einparteienstaat. Die Opposition hat dem Druck, sich der Regierungspartei anzuschließen, nachgegeben, weil sie nur in der Regierung Zugang zu den Ressourcen hatte. Nach der Unabhängigkeit hatten wir in Afrika liberaldemokratische Verfassungen, doch etwas in den Genen dieser Verfassungen begünstigt in einer afrikanischen Umgebung das Entstehen von Diktaturen. Was ist das? Es ist das Prinzip "The winner takes it all". Diejenigen, die außerhalb der Macht stehen, sagen: "Hey, wir sterben vor Hunger, demütigen wir uns halt und treten in die Regierung ein". Damit gab es keine Opposition und Diktaturen konnten wachsen. Werden in gewissen afrikanischen Ländern schon alternative Modelle versucht?
Ja, etwa im Somaliland. Es hat sich zwar bei der Unabhängigkeit freiwillig Somalia angeschlossen, hat nun aber eine Regierung gebildet und will wegen des Chaos in Somalia unabhängig sein. Aber die UNO erkennt die Regierung nicht an - obwohl genau im Somaliland Stabilität herrscht. Dort gibt es zwei Parlamentskammern: Die eine erinnert an westliche Vorbilder, die andere bilden Clanälteste. Diese klären Streitpunkte auf die Art, wie es der Tradition der Somalis entspricht. Und diese zwei Kammern arbeiten zusammen. Etwas in dieser Richtung brauchen wir auch in Kenia. Ein Modell, das einerseits nicht verleugnet, dass wir in einem globalisierten Umfeld leben, das aber andererseits nicht ignoriert, dass die meisten von uns noch immer auf eine sehr originär afrikanische Weise die Welt betrachten. Wir brauchen so eine Synthese.
Klaus Huhold ist Redakteur im EU@welt-Team der "Wiener Zeitung".
Zur Person
Reginald Oduor wurde 1963 geboren, kam also im selben Jahr auf die Welt, in dem Kenia unabhängig wurde. Er wurde mit sehr schwachem Augenlicht geboren, seit seinem ersten Lebensjahr ist er nach einer Operation blind. Er studierte in Nairobi an der Kenyatta-Universität und wechselte 1992 an die Universität von Nairobi, wo er seinen Master erhielt und seitdem Philosophie unterrichtet. Lange konnte er nicht an seinem Doktorat arbeiten, weil ihm die Ausrüstung, die er als Blinder benötigte, fehlte. 2006 besorgte ihm die Universität die notwendigen Hilfsmittel.
2012 veröffentlichte Oduor das Buch "Ethnic Minorities in Kenya’s Emerging Democracy: Philosophical Foundations of their Liberties and Limits". Er ist auch Herausgeber der philosophischen Publikationsreihe "Thought and Practice: A Journal of the Philosophical Association of Kenya". Zudem ist er einer der Gründer einer Organisation, deren Ziel es ist, Blinde im Berufsleben zu unterstützen.
In Wien war Oduor auf Einladung des "Instituts für Wissenschaft und Kunst" zu Gast, das gemeinsam mit der "Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie" (WIGIP) den Arbeitskreis Interkultu-ralität organisiert. Die WIGIP gibt auch die Schriftenreihe "polylog, Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren" heraus.