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Groll und Schuldgefühle bestimmen das außenpolitische Verhalten der mächtigsten Männer Russlands.
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"For God’s sake, this man cannot remain in power", sagte US-Präsident Joe Biden am 26. März bei seinem Besuch in Polen über Wladimir Putin angesichts der von der russischen Armee in der Ukraine verübten Kriegsverbrechen und Zerstörungen. Zwar war Bidens programmatische Rede eindeutig ans westliche Publikum adressiert, jedoch hörte mit Sicherheit auch der Kreml sehr aufmerksam zu. Unmittelbar danach stellte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow klar, es sei nicht Sache der USA, über die Person des russischen Präsidenten zu entscheiden. Den meisten Beobachtern dürfte aber die jahrzehntealte russische Angst, die aus seinen Worten sprach, entgangen sein.
Putin und sein innerer Kreis entstammen in etwa der gleichen Generation, die beim Zerfall der Sowjetunion schon im Umfeld der Macht war, aber auf die Entscheidungsprozesse keinen Einfluss hatte. Sie hegen nach Ansicht namhafter Experten ungeachtet des immensen Reichtums und der uneingeschränkten Machtfülle nach wie vor einen starken Groll über die Art und Weise des Unterganges der UdSSR. Offenbar plagen sie Schuldgefühle, seinerzeit gegen die Auflösungstendenzen nichts unternommen zu haben. Das Ende Sowjetunion war für die jetzigen Machthaber im Kreml ein äußerst traumatisches Erlebnis, und sie fürchten für die Russische Föderation eine Wiederholung.
So irrational diese Sorge Außenstehenden erscheinen mag, für Russlands Eliten stellt das Zerfallsszenario eine absolut reale, existenzielle Bedrohung dar, die es um jeden Preis zu verhindern gilt. Sie sieht sich umgeben von einem Feuerring an Konflikten - zu einem wesentlichen Teil vom Westen, vor allem von den USA befeuert, um einen Regimewechsel durch revolutionäre Kräfte in Moskau herbeizuführen - und hat dabei wohl am ehesten das Bild einer belagerten Festung vor Augen. Russlands außen- und sicherheitspolitischen Eliten sehen staatliche Instabilität als größte Bedrohung für ihr Land.
Außen ängstlich, innen blind
Der Kreml ist überzeugt, ausschließlich äußere Einflussnahme sei für das Gelingen der Massenproteste entscheidend, die inneren Gründe seien dagegen vernachlässigbar. Interessanterweise wendet Russlands Führungsriege diese Interpretation nicht nur auf die Gegenwart an, sondern auch auf die Vergangenheit. So wird in etwa die Revolution 1917 in erster Linie einem äußeren Einfluss und der großzügigen Finanzierung durch Deutschland und die USA zugeschrieben. Die zahllosen inneren Faktoren, die historisch betrachtet revolutionsauslösend waren, werden von den russischen Eliten dagegen stiefmütterlich behandelt und gern übersehen.
Das führt dazu, dass man in Moskau nicht wirklich zu verstehen vermag, wie die Gesellschaften in umliegenden Staaten funktionieren. Das ist mit ein Grund, warum die russische Armee in der Ukraine wider Erwarten langsamer vorankommt. Das Einzige, was dem Kreml wichtig erscheint, ist der unbeschränkte Einfluss auf die Staatsspitze. Man glaubte tatsächlich, in der Ukraine würde sich bereits mit dem Einmarsch russischer Streitkräfte, allerspätestens aber mit der Belagerung der Hauptstadt Kiew und der bevorstehenden Ausschaltung der Regierung das ganze Land sofort Russland anschließen. Um den gesellschaftlichen Restwiderstand werde sich dann die Staatspropaganda erfolgreich kümmern.
Jede innere Opposition wird deshalb ausnahmslos als von außen finanziert und gesteuert betrachtet. Aus dieser irrationalen Angst die lassen sich die harsche Ablehnung jedweder vom Kreml nicht kontrollierter Opposition und freier Medien sowie auch die maßlose Verfolgung und Vergiftungspläne gegen Alexej Nawalny - jedenfalls zu einem guten Teil - erklären. Allerdings dürfte diese Einseitigkeit in der Wahrnehmung und Ignoranz innergesellschaftlicher Entwicklungen in den kommenden Jahren für den Kreml zum Problem werden.
Die Sorge vor einem vom Ausland befeuerten Regierungssturz war zwar spätestens seit der Rosenrevolution in Georgien (2003) und der Orangenen Revolution in der Ukraine (2004) innerhalb russischer Eliten präsent, nach dem gewaltsamen Sturz Muammar Gaddafis in Libyen (2011) dürfte jedoch die Angst zum ständigen Begleiter Putins geworden sein. Der renommierte Politologe Ivan Krastev sieht darin ein Schlüsselerlebnis für Putin und den zentralen Auslöser seiner Entscheidung über die Rückkehr ins Präsidentenamt gewesen. Angeblich soll Putin die Szenen der Hinrichtung Gaddafis stundenlang wie gebannt angesehen haben.
Vor diesem Hintergrund wird Bidens jüngste Rede in Polen vom Kreml als eindeutiger Beweis für aggressive US-Umsturzpläne interpretiert und in Russlands Staatsmedien genussvoll ausgeschlachtet. Die noch am selben Abend erfolgte Richtigstellung seitens des Weißen Hauses, wonach die Äußerung des US-Präsidenten nicht als direkter Aufruf zum Sturz Putins interpretiert werden dürfe, wird daran nichts ändern können. Bidens Worte dürften Putin die absolute Richtigkeit seiner Gedankenwelt endgültig bescheinigt und die Alternativlosigkeit seiner aktuellen und aller noch kommenden Handlungen bestätigt haben.