)
Jeder speichert oder löscht seine Erlebnisse nach unterschiedlichen, selektiven Kategorien. | Erinnerung ist das Zusammenklauben und Rekonstruieren von Erfahrungen. | Wien. Eine Familie blickt auf einen Oster-Urlaub am Gardasee zurück, den sie in den Achtzigerjahren unternommen hat. "Es war noch Schnee am Monte Baldo bei unserem Ausflug rund um den See. Und dann diese Osteria, in der wir nachher waren. Da hat es diese einmalige Torta della Nonna gegeben", schwärmt der Vater. Ratlosigkeit in den Gesichtern der Töchter, die damals Teenager waren - "echt?"
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Schließlich kramt die ältere Tochter aus der Fundgrube ihrer Erinnerungen ein Versatzstück hervor: "Ah ja, die Rundfahrt. Da war mir so schlecht im Auto, weil das so lange gedauert hat. Ich habe die ganze Zeit Walkman gehört zur Ablenkung." Die Mutter hört das Gespräch mit, sagt aber nichts. Einer der Urlaube am Gardasee. Da haben wir ein Apartment gemietet, die Freundin der älteren Tochter war auch dabei. Beim Kochen hat keine von ihnen geholfen. Die Mädels haben pastellfarbene Overalls gekauft.
Wenn mehrere Menschen von gemeinsamen Ferien erzählen, könnte man meinen, sie waren auf verschiedenen Reisen. Das selbe Phänomen zeigt sich auch bei Maturatreffen - veritable Institutionen der Erinnerung. Etwa, wenn zwei Erzähler im Brustton der Überzeugung dasselbe Zitat unterschiedlichen Mitschülern in den Mund legen.
Gehirn als Filter der ständig einströmenden Eindrücke
Täglich und ständig strömen Eindrücke auf uns ein. Alles, was wir hören, fühlen, riechen, schmecken, wird vom Gehirn verarbeitet und gefiltert. Dabei speichert der Mensch Information völlig anders als ein Computer es täte. "Die Menge der täglichen Information entspricht zwei Millionen Bit pro Sekunde. Im bewussten Denken können wir aber höchstens 20 Bit pro Sekunde verarbeiten. Das reicht gerade, um im Sekundentakt die Höhe von sechs-stelligen Zahlen von einander zu unterscheiden. Oder um zu Fuß zu gehen, ohne mit anderen zusammenzustoßen", sagt Ihor Atamaniuk, psychologischer Berater und Trainer für neuro-linguistisches Programmieren in Wien.
Wir wählen, was wir abspeichern. Denn wenn wir komplexere Aufgaben erledigen, müssen wir uns auf das Wesentliche konzentrieren. Damit ein Autofahrer nicht mit anderen Verkehrsteilnehmern kollidiert, muss seine Aufmerksamkeit der Straße gelten. Was nicht heißen will, dass der Autofahrer nicht am Rande auch Schaufenster, Passanten, Lichtreklamen oder einen besonders großen Hund wahrnimmt. Doch nicht alle Eindrücke wandern auch ins Gedächtnis.
Die erste Stufe der Informationsaufnahme ist der sensorische Speicher, auch Wahrnehmungsspeicher genannt. Er funktioniert wie ein Sieb. Alle Wahrnehmungen treffen hier ein und bleiben dort einige Sekunden lang. Wenn eine Information so wichtig ist, dass sie weiterer Bearbeitung bedarf, wird sie an das Kurzzeitgedächtnis weiter geleitet. Dieses kann allerdings nur sieben Informationen gleichzeitig aufnehmen. Deswegen ist es so nur schwer möglich, sich eine Telefonnummer ab acht Zahlen zu merken. Auch aus dem Kurzzeitgedächtnis werden Informationen wieder gelöscht und nur das Wichtigste landet im Langzeitgedächtnis.
Das Langzeitgedächtnis speichert markante Informationen dauerhaft im Gehirn. Behalten wird, was überlebenswichtig ist, was für die Entwicklung von Interesse ist, was auffällig ist, was mit anderen oder bereits bekannten Begriffen verknüpft ist und was uns emotional berührt.
Eine der zuständigen Gehirn-Regionen ist der Hippocampus, der Erlebtes registriert und die Langzeitspeicherung in den beiden Temporallappen veranlasst. Zusammen mit dem Hippocampus holt das Frontalhirn die abgespeicherten Erinnerungen so es nötig ist wieder hervor. Vereinfacht gesprochen gibt es zudem zwei Gedächtnissysteme. Im expliziten Gedächtnissystem erlernen wir Fremdsprachen oder Gedichte und speichern Urlaube ab. Im impliziten System hingegen lernen wir motorische Fähigkeiten, wie Fahrradfahren oder Schuhe binden, oder dass bestimmte Reize mit bestimmten Gefühlen gekoppelt sind.
Die Auswahl der Dinge, die den Weg von der Außenwelt über den sensorischen Speicher in das Langzeigedächtnis finden, ist emotional determiniert und vom jeweiligen Erfahrungshorizont geprägt. "Was wir registrieren, speichern, gleich wieder vergessen oder gar nicht bemerken, hängt von unseren jeweiligen Wahrnehmungsfiltern ab", sagt Atamaniuk. Und damit von der Emotion, die eine Situation begleitet und ihr dadurch besonderes Gewicht verliehen hat. Da wir mit unseren fünf Sinnen nicht alle Informationen gleichzeitig aufnehmen und bewusst verarbeiten können, schafft sich jeder von uns seine eigene Repräsentation der Welt.
Erinnerung wird auch von kollektivem Wissen geprägt
Zu den einleuchtendsten Filtern gehören die gesellschaftlich-kulturellen: So ist es für einen Österreicher wahrscheinlich undenkbar, einen Hund mit Genuss zu verspeisen. Für manche Chinesen dagegen ist es vollkommen normal. Muss ein Europäer Hunderagout verspeisen, wird ihn das so beeindrucken, dass er es wohl nie wieder vergessen wird. Viele Chinesen aber können sich genau so wenig an ihr erstes Hunderagout erinnern wie Österreicher an ihr erstes Schnitzel. Und ein Teenager auf Familienurlaub wird sich vermutlich eher an seinen pastellfarbenen Overall erinnern als an Vaters Torta della Nonna. Und wer verliebt ist, wird die ersten Wochen der neuen Beziehung ganz besonders intensiv erleben.
"Was wir abspeichern, ist unsere subjektive Wahrnehmung", sagt Thomas Bodner von der Uni-Klinik für Neurologie Innsbruck: "Ebenso subjektiv wie das Abspeichern ist auch das Hervorholen von Erlebnissen aus der Erinnerung. Es ist nicht wie wenn man ein Buch aus einem Regal nimmt und es einfach aufschlägt. Erinnerung ist etwas Dynamisches. Man klaubt sich ein Erlebnis zusammen und rekonstruiert es. Dabei passieren Fehler. Hier wird etwas weggelassen, dort etwas vermischt, da etwas dazugetan."
Mit der objektiven Wahrheit haben Erinnerungen nichts zu tun. Wenn Geschichten aus der Vergangenheit etwas abstrus klingen, ist das jedoch meistens nicht, weil jemand zu lügen versucht. Es handelt sich um Rekonstruktionsfehler. "Meistens prägen wir uns das Erlebte nicht fotografisch ein, sondern bilden Gedächtnisspuren, und konstruieren daraus neue Bilder", sagt Bodner.
Interviews im Zuge von Gerichtsverhören können aus genau diesem Grund sogar gefährlich sein. Zumindest, wenn es um den objektiv wahren Sachverhalt geht. Denn oftmals wird bei einem Verhör dieselbe Frage wiederholt ("Haben Sie oder haben Sie nicht die Beute im Wald versteckt …?"). "Beim Erinnern an die Frage, die ich schon vorher nicht beantworten konnte, habe ich ein Bild von der Frage, wie sie schon zuvor gestellt wurde, sowie ein Bild vom Wald, sodass ich in der Lage wäre, ein Bild von der Beute im Wald zu konstruieren", so Atamaniuk.
Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit gibt es nicht. Zumindest nicht in der Erinnerung. Bei Verkehrsunfällen haben Zeugenaussagen kaum Relevanz im Detail. Deswegen wird jede Aussage auf ihre Plausibilität überprüft, indem die Polizei das Gesagte mit der Realität abgleicht.
Wir merken uns, was wir verstehen und kennen
Denn was wird gemerkt? "Was wir verstehen und aufnehmen beruht auf dem, was wir bereits gesehen haben. Denn sehen ist wiedererkennen", betont Atamaniuk. Zauberer leben davon. Des Magiers Kunst ist, das Publikum glauben zu lassen, dass es etwas Bestimmtes sieht, damit er währenddessen die Vorkehrungen für seinen Trick treffen kann.
Die Studie "Gorillas in unserer Mitte" der University of Illinois zeigt, dass in der Stadt lebende Menschen sogar einen vorbeigehenden Menschen im Gorillakostüm übersehen können. Daniel Simons und Christopher Chabris nutzten das Phänomen der Unaufmerksamkeitsblindheit für komplexe Objekte und Ereignisse in bewegten Szenen. Vier Videos von jeweils 75 Sekunden Dauer zeigen zwei spielende Basketball-Teams mit je drei Spielern, eines trägt weiße, das andere schwarze T-Shirts. Nach Sekunde 44 bis 48 ereignet sich etwas Unerwartetes: Einmal geht eine große, weiß gekleidete Frau mit einem aufgespannten Regenschirm von links nach rechts durch das Geschehen. Dann läuft eine kleinere Frau im Gorillakostüm auf die gleiche Weise durchs Bild.
Bevor sie ein Video sahen, bekamen die Versuchspersonen die Aufgabe, sich auf eines der beiden Teams zu konzentrieren und dessen Ballwechsel im Kopf mitzuzählen. Anschließend fragte man sie, ob sie während des Zählens etwas bemerkt hatten. Nur 54 Prozent hatten den "Zwischenfall" bemerkt, 46 Prozent nicht: Wir erinnern uns an das, worauf wir uns konzentrieren.
Und wir können "Erinnerungen" entstehen lassen, die nicht oder nur teilweise der Vergangenheit entsprechen. Und zwar durch Erzählungen. Wenn jemand wortgewandt vom brüllenden Schuldirektor erzählt, setzt sich der brüllende Schuldirektor im Gedächtnis fest, obwohl dieser in Wirklichkeit in seiner ganzen Laufbahn nur ein einziges Mal laut geworden ist. Denn die Sprache überformt die Erinnerung, weil sie die Wahrnehmung kategorisiert.