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Die ganze Welt ist Innenpolitik

Von Thomas Seifert

Leitartikel

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Es ist die Zeit der Beschwörungen von einer Welt für uns alle, die Zeit des Phrasendreschens vom globalen Dorf, von der Weltgemeinschaft, von Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Frieden, die Zeit von Sonntagsreden - und das unter der Woche. Denn in New York, dem Hauptsitz der UNO, treffen sich die Staats- und Regierungschefs zur jährlichen Vollversammlung. Wenn man es lieber ein wenig pathetisch möchte, könnte man sagen: Das Parlament der Menschheit tagt. Und wenn nicht gleichzeitig in Syrien UN-Hilfskonvois bombardiert würden, weltweit 780 Millionen Menschen an Hunger litten und der Klimawandel das Antlitz der Erde furchterregend veränderte, dann könnte man zumindest in diesen Tagen an das Gute im Menschen glauben.

Ein Thema dominiert das Treffen der Staatenlenker: Flucht und Migration. Schon beim Landeanflug auf New York erspähten einige der Delegierten vielleicht die Freiheitsstatue in der Oberen Bucht von New York, manche erinnerten sich vielleicht an die am Sockel eingemeißelte Verheißung: "Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren . . ." Über Flüchtlinge wird viel gesprochen in New York in diesen Tagen, über die "bemitleidenswerten Abgelehnten eurer gedrängten Küsten", doch niemand wird sagen: "Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen."

Das Treffen in New York macht begreiflich: Die ganze Welt ist Innenpolitik. Wenn etwa Kanzler Christian Kern in New York sagt, die UNO spiele eine wesentliche Rolle bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems, und hinzufügt: "Einzelne Länder können diese Last nicht allein schultern." Und wenn Außenminister Sebastian Kurz von der Hilfe vor Ort spricht, die es aufzustocken gelte, dann wenden beide Politiker sich nicht nur an ihre Kollegen aus den UN-Mitgliedsländern - sondern auch an die Wähler in Österreich. Freilich, Politik ist die Kunst des Machbaren: Und so muss auf die schönen Reden das langsame Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß, wie Max Weber schrieb, folgen.

Aber: Wenn ein grausamer Bürgerkrieg die Menschen in Syrien in die Flucht auch nach Österreich treibt oder Staatszerfall, wirtschaftliche Malaise oder Unterdrückung in ganzen Landstrichen Afrikas die Menschen nach Norden ziehen lassen, dann machen die schönen Reden vom globalen Dorf und von der Weltgemeinschaft plötzlich sehr viel Sinn.