Crespi d’Adda in der Nähe der oberitalienischen Stadt Bergamo war einst eine Mustersiedlung für Fabrikarbeiter. Heute wohnen dort vor allem alte Menschen, die Ortschaft sucht nach einer neuen Identität.
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Die unverändert gebliebene Mustersiedlung Crespi d’Adda in der Lombardei erinnert an die Textilhersteller-Dynastie Crespi. Mit ihren kostenlosen Angeboten für die Arbeiterfamilien konnten sie fast ein halbes Jahrhundert lang den Arbeitsfrieden sichern. Mit seinem historischen Kern, Neubauquartieren und Industrieansiedlungen ist Capriate San Gervasio eine typische Landgemeinde nahe der lombardischen Stadt Bergamo, die zu Norditaliens industriellen Zugpferden gehört. Am Ortsrand jedoch erstreckt sich ein ungewöhnliches städtebauliches und architektonisches Juwel, das dem etwa 7000 Einwohner zählenden Ort zu Weltruhm verholfen hat: die Mustersiedlung Crespi d’Adda. Ende des 19. Jahrhunderts angelegt, steht sie seit 1995 auf der Unesco-Welterbeliste.
Durchdachte Planung
Cristoforo Benigno Crespi und sein Sohn Silvio orientierten sich bei der Anlage des "Villaggio" (Dorf) an der nordeuropäischen Gartenstadtidee. Sie ließen Textilfabrik und private wie öffentliche Gebäude nach einem wohldurchdachten Gestaltungsprinzip anlegen. Solche Mustersiedlungen, die sich vollständig im Eigentum der Gründer befanden, finden sich auch in anderen Teilen Norditaliens. Crespi d’Adda freilich sieht heute noch so aus wie auf alten Fotos.
Diese Unversehrtheit hatte sich für die Aufnahme auf die Unesco-Liste damals als ausschlaggebend erwiesen. Crespi d’Adda gilt als steinernes Zeugnis aus der Frühphase der in Italien vergleichsweise spät einsetzenden Industrialisierung.
Cristoforo Crespis Arbeiterdorf besteht aus einer breiten und schnurgeraden Hauptstraße, Wohngebäude für die Arbeiterfamilien erheben sich entlang parallel verlaufender Straßen. Der Siedlungsgründer suchte für seine Produktion die Nähe zum Wasser, das von den Flüssen Brembo und Adda über ein ausgeklügeltes Kanalsystem zu den Produktionsstätten gelangte. Auf einem Quadratkilometer Land, den er erworben hatte, begann 1878 der Aufbau einer Arbeitergemeinschaft, in der Wohnen, Gesundheitsdienste, Bildung und Verpflegung gratis angeboten wurden. Crespis Motto lautete: "Zufriedene Arbeiter bringen bessere Leistungen". Seine Rechnung ging auf: Zumindest der Firmenchronik zufolge hat es von 1892 an bis in die frühen 1940er Jahre keinen Arbeitskonflikt gegeben. Das Crespis Ideenwelt nie sonderlich zugeneigte Mussolini-Regime versetzte der Mustersiedlung, die zu ihren besten Zeiten gut 3000 Einwohner besaß, den Todesstoß.
Im Gegensatz zu Robert Owen, dem Vater der Genossenschaftsbewegung und Gründer der Arbeitersiedlung New Lanark (Schottland) oder Titus Salt, dem Textilhersteller, Philanthropen und Gründer der viktorianischen Mustersiedlung Saltaire (Nordengland) ging es Cristoforo Crespi weniger darum, eine ausgereifte soziale Idee umzusetzen. Tief im Katholizismus verwurzelt, gab sich der Patriarch, der bei Aufenthalten in Großbritannien das Elend in den Arbeitersiedlungen mit eigenen Augen gesehen hatte, als Pragmatiker: Seine Gratisangebote aus einer Hand sollten die Existenz seiner Arbeiterfamilien und damit dauerhaften Arbeitsfrieden sichern.
Die ersten zwei Gebäude von Crespi d’Adda erheben sich auf einem Hügel an der Hauptstraße beim Eingang der Siedlung. Sie waren dem Arzt und dem Pfarrer vorbehalten. Wenige Meter davon entfernt ließ der Patriarch unterhalb des Hügels eine Kopie der Renaissance-Kirche Santa Maria in seinem Geburtsort Busto Arsizio (Varese) errichten. Nicht nur der Arzt, auch Hochwürden wurde von ihm besoldet. Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, ließ Cristoforo Crespi, ungewöhnlich für italienische Kirchen, die Kanzel mit dem Familienwappen verzieren, das einen stilisierten Adler zeigt.
Genau gegenüber der Kirche, auf der anderen Seite der Hauptachse, thront das mit einer hohen Mauer umgebene "Castello", Sitz der Crespi-Dynastie. Mit seinen Schwalbenschwanz-Zinnen und einem Turm erinnert es an eine mittelalterliche Burg. Das heute völlig leer geräumte Ziegelgebirge symbolisierte einst den unbeschränkten Machtanspruch der Dynastie. Von ganz oben aus konnte der Siedlungsbesitzer das ganze Fabrikgelände und die Ortschaft bestens einsehen.
In unmittelbarer Nähe zum Familiensitz entstand entlang der Hauptachse der kompakte Block der neogotischen Textilfabrik mit einer Fläche von 60.000 Quadratmetern. Selbst ein kleines Wasserkraftwerk im Art-Nouveau-Stil gehört dazu. Als die Provinz Bergamo noch weitgehend ländlich geprägt war, besaß das Villaggio Strom, fließendes Wasser und eine öffentliche Badeanstalt.
Auch die verwaiste Produktionsstätte fällt durch eine ungewöhnliche Außengestaltung auf: Fensterrosen aus Terrakotta und achteckige Sterndekorationen verleihen der Fabbrica das Aussehen einer "Kathedrale der Arbeit". Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erheben sich die Wohngebäude, die der Siedlungsgründer anfangs durchgehend als dreistöckige Familienhäuser anlegen ließ. Sein Sohn Silvio ordnete den Bau von mehr Einzelhäusern an und betonte damit die sozialen Unterschiede. Die architektonisch verschieden gestalteten Villen mit Vorgärten waren den leitenden Angestellten vorbehalten. Der Direktor residierte mit seiner Familie gar in einem eleganten Palazzo mit einem kleinen Waldstück.
Silvio Crespi lagen Gärten besonders am Herzen. Dort sollten die Arbeiterfamilien für den Eigenbedarf Obst und Gemüse anbauen. Geistige Nahrung hingegen fanden die Werktätigen in einer Art Kulturzentrum, das auch eine Bibliothek und ein Kleintheater besaß. Der kostenlose Besuch der Schule dauerte drei Jahre, im benachbarten Ospedale konnten sich die Bewohner behandeln lassen. Und selbst eine Anlage für die Leibesertüchtigung hatten die Siedlungsgründer nicht vergessen. Zwar hatte Cristoforo Crespi bei seinen Englandaufenthalten vor allem die Folgen des weit verbreiteten Alkoholismus in den dortigen Arbeitersiedlungen in Erinnerung behalten. Auf eine "Cantina", in der die Arbeitenden nach vollbrachtem Tageswerk einen Schoppen Wein in Empfang nehmen durften, wollte er dennoch nicht verzichten - schließlich war man ja in Italien.
Gemüse wird in den Vorgärten schon lange nicht mehr gezogen, dort erstrecken sich peinlich kurz geschnittene Rasenflächen. Fast alle Wohnhäuser sind renoviert, im Laufe der Zeit angebrachte Anbauten hatten die Besitzer entfernt, da die Unesco das so verlangt hatte.
Sorge um die Zukunft
Crespi d’Adda gehört heute den Rentnern, die oftmals in der Fabrik dort ihr Brot verdient haben. Die jüngere Generation hat der Mustersiedlung den Rücken gekehrt, "denn hier gibt es keine Arbeitsplätze, keine berufliche Zukunft", berichtet Valeria Cavenaghi, die mit ihren 34 Jahren zu den jüngsten Bewohnern zählt. Mit dem Wegfall der Arbeitsplätze habe sich die kulturelle Identität des Ortes nachhaltig verändert, fügt sie hinzu. Crespi d’Adda entwickelt sich zum Museumsdorf, aber nach einem angemessenen Museum, das auch die glanzvolle Periode für Besucher wieder aufleben lässt, sucht man vergebens. Es gibt nicht mehr als einen "Informationspunkt" mit kärglichen Informationen. Ein privater Freundeskreis, dem auch Valeria Cavenaghi angehört, sucht nach neuen und angemessenen Nutzungsmöglichkeiten für die öffentlichen Gebäude, vor allem in Teilen der Fabrik, und es mangelt nicht an Ideen. "Eine Galerie für Gegenwartskunst, ein Kleintheater oder ein Atelier für Kunsthandwerker, das würde gut zum Charakter dieses Ortes passen", bekräftigt sie.
Allein, es fehlt das nötige Kleingeld. Deswegen lässt auch der bauliche Zustand der Textilfabrik zu wünschen übrig. Die letzte Besitzerin, ein italienisches Textilunternehmen, hatte den gesamten Maschinenpark an asiatische Abnehmer verscherbelt und sich dann zurückgezogen. Nicht nur die Fassaden bröckeln - Risse im Riesenkamin hatten die Behörden verlasst, einen Abschnitt der Hauptstraße für Autos und Fußgänger zu sperren.
Als symbolträchtige Allegorie auf das Leben der Arbeiterfamilien wird die Hauptachse nach der Fabrik zu einer lauschigen Allee und nähert sich dem Finale: Ein pyramidenförmiges, an das Denkmal für die französischen Weltkriegsgefallenen in Verdun erinnerndes Mausoleum, das sich die Crespi-Dynastie als Grablege hatte auftürmen lassen, dominiert den Friedhof. Links und rechts des Kiesweges, der zur Pyramide führt, fällt der Blick auf akribisch angeordnete Reihen mit bescheidenen Grabsteinen. Für den Fall, dass sich die Hinterbliebenen für ihre Verstorbenen keinen eigenen Grabstein leisten konnten, boten die Patriarchen Einheitsgrabplatten an, auch die kostenlos. Das Wohl ihrer Schutzbefohlenen lag ihnen stets am Herzen - von der Wiege bis zur Bahre.
Thomas Veser, geboren 1957, lebt als Journalist in Konstanz und schreibt für Zeitungen und Periodika in der Schweiz, Deutschland und Österreich.