China vermeldet das geringste Wachstum seit 24 Jahren und verfehlt zudem das Wirtschaftsziel für 2014 - für die Regierung eine "neue Normalität", die einen Wandel im ökonomischen Modell zeigt.
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Peking. Als Chef des chinesischen Statistikamtes hat sich Ma Jiantang in den vergangenen Jahren an das Überbringen von schlechten Nachrichten gewöhnt. Dementsprechend routiniert rückte der 56-Jährige seine Brille zurecht, als er am Dienstag Zahlen veröffentlichte, die in der Weltöffentlichkeit erwartungsgemäß Sorgenfalten hervorrufen würden. Tatsächlich liest es sich zunächst wenig erfreulich, wenn die chinesische Wirtschaft 2014 so langsam gewachsen ist wie seit 24 Jahren nicht mehr.
1990, das war das Jahr nach der Niederschlagung der Studentenbewegung am Tiananmen, als Wirtschaftssanktionen gegen China verhängt wurden und das Land aus einer Phase mit hoher Inflation einer ungewissen Zukunft entgegen taumelte. Nun hat die Regierung darüber hinaus auch ihr Wachstumsziel verfehlt, erstmals seit 1999 - noch so ein Schicksalsjahr, als die Asienkrise das Reich der Mitte kurzfristig nach unten riss. Nach den aktuellen Zahlen schwächte sich der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 2014 von 7,7 Prozent im Jahr zuvor auf 7,4 Prozent ab, während die Führung ein Plus von 7,5 Prozent angepeilt hatte.
So weit, so schlecht. Ma zuckte entschuldigend die Schultern und räumte ein, dass die Wirtschaft Schwierigkeiten hätte, sich jedoch innerhalb einer "neuen Normalität" stabil entwickle. Von zweistelligen Zuwachsraten habe man sich ohnedies bereits in den Jahren zuvor verabschiedet, nun ginge es um eine gewisse Konsolidierung, die sich im vierten Quartal 2014 bereits abgezeichnet hätte.
Auswirkungen auf Europa
Die Ursachen für die nicht den Erwartungen entsprechenden Ergebnisse waren in den Medien schnell ausgemacht, da dem "Export-Weltmeister" neben der globalen Wirtschaftsflaute auch eine schwächelnde Binnennachfrage, Überkapazitäten in der Industrie und der sich abkühlende Immobilienmarkt zu schaffen mache. Die schwächere Konjunktur würde sich nach Angaben des Präsidenten der Europäischen Handelskammer in China, Jörg Wuttke, auch auf die europäische Wirtschaft auswirken. Die Erwartungen an Chinas Wachstum müssten in den nächsten zwei, drei Jahren zurückgeschraubt bleiben.
Dementsprechend senkte der Internationale Währungsfonds (IWF) umgehend seine Prognose für China für dieses Jahr und rechnet mit einer weiteren Abkühlung auf 6,8 Prozent, womit pessimistische Wirtschaftsforscher bereits 2014 kalkuliert hatten. Erstmals wird also mit der gefürchteten "Sieben" eine gewisse Schallmauer zumindest angedacht. Denn bei dem für europäische Verhältnisse immer noch utopisch anmutenden Wachstum zielt die Regierung vor allem darauf ab, das Milliardenvolk ausreichend mit Arbeitsplätzen zu versorgen und soziale Unruhen zu vermeiden. Daher herrschen in keinem anderen größeren Land auf der Welt solch starre Zielvorgaben wie in China, wo die Fünf-Jahres-Pläne neben der sozialen Entwicklung auch das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und der Arbeitsplätze für jede einzelne Provinz festlegen.
Das war jedoch nicht immer so. Erst in den 1980er-Jahren begann China mit der Festlegung eines jährlichen Wachstumsziels, was lange Zeit kaum relevant war, da es ohnehin weit unterhalb des wirtschaftlichen Potenzials des Landes angesetzt wurde. Erst mit der Verlangsamung der chinesischen Volkswirtschaft wurde dieses Ziel zu einer schwer erreichbaren Verpflichtung, welche politische Beschlüsse beeinflusst und - so Kritiker - verzerrt.
Sowohl 2013 als auch 2014, als die Gefahr bestand, das festgelegte Ziel zu verfehlen, startete die Regierung mehrere Konjunkturprogramme, um die Wirtschaft wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Und auch diesmal scheint man auf die altbewährten Rezepte zumindest nicht ganz verzichten zu wollen: Erstmals seit mehr als zwei Jahren hat etwa die Zentralbank im November überraschend die Zinsen gesenkt. Zudem genehmigte die nationale Entwicklungskommission NDRC bereits 50 Transportprojekte, die in diesem Jahr begonnen werden sollen; das Programm hat ein Volumen von rund 83 Milliarden Euro.
China überholt USA
Allerdings werden die jüngsten Wirtschaftsnachrichten aus China international durchaus differenziert aufgenommen. Experten wie Markus Rodlauer vom Asien-Pazifik Büro des IWF erachten eine Abkühlung der mittlerweile bereits größten Wirtschaftsmacht der Welt bei allen Risiken als notwendig. Zum einen hält der historisch gesehen einzigartige Boom bereits länger an, als es von vielen Ökonomen erwartet worden war. Wenn die Wirtschaft heute um sieben Prozent wächst, wären dies vor drei Jahren noch 10 Prozent gewesen, gemessen in absoluten Zahlen. Die von Ma angesprochene "neue Normalität" meint einen Wandel des Wirtschaftsmodells, das nicht mehr auf einen überhitzten Immobilienmarkt und Werkbank-Fabriken zu Lasten der Umwelt setzen soll.
Geht es nach den Plänen der chinesischen Regierung, soll nun ein "qualitatives Wachstum" mit mehr eigenen Innovationen und Hochtechnologie zu höheren Löhnen führen, was wiederum den Binnenkonsum ankurbeln und den Dienstleistungssektor wachsen lassen soll. Doch der Weg dorthin ist ein risikoreicher, wie beispielsweise die jüngsten Turbulenzen an den chinesischen Börsen nach Beschränkungen durch die Finanzregulatoren für Wertpapierkredite zeigen. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos wartet man daher gespannt, wie tief Premierminister Li Keqiang die Aussichten für sein Land senken wird. Wird es etwa doch die gefürchtete Sieben?