Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wer heute in Przemysl aus dem Zug steigt, findet sich im schönsten aller aus k.k. Zeit noch erhaltener Bahnhofsgebäude: neu renoviert, natürlich in Schönbrunnergelb, innen mit Marmor und weißem Stuck, Bahnsteige mit viel Gusseisen, Perron- und Bahnhofsuhren nicht digital, sondern mit mächtigen schwarzen Zeigern. Und dann auf den Vorplatz tretend und in die Innenstadt gehend, findet man sich mit einem Stadtplan aus 1914 genau so zurecht wie mit einem aus 2003 (ein Straßenname hat sich geändert: der Franz-Josefs-Kai am Ufer des San heißt heute Josef-Pilsudski-Kai): Die zweispurigen Straßen mit ihren hohen, schmalen Gehsteigen und den nur einstöckigen Häusern ohne wesentliche Neonreklamenverunzierung, der Rynek mit dem Denkmal für Jan III. Sobieski, mächtige Kirchen dreier Konfessionen.
All dies drängt sich zwischen dem San, über den auch jetzt nur eine Straßen- und eine Eisenbahnbrücke in die neueren Stadtteile führt, und dem Schlossberg, von dem aus sich, so wie vom Turm des Stadtmuseums an der Franciszkanska, ein schöner Blick ergibt. Im Süden auf die Vorberge der Karpaten, zwischen deren letzten Hügeln der San hier in die galizische Ebene fließt, das Gezacke der vielen Kirchtürme, das Dächergewirr über den kleinen Häusern der sich an den Schlossberg schmiegenden Gässchen mit dem noch spärlichem Autoverkehr, die weiträumigen Gleisanlagen (wenigstens hier eine Neuerung: in Przemysl werden die grenzüberschreitenden Züge von der westlichen auf die in der nun nahen Ukraine noch verwendete russische Breitspur umgespurt), um den Bahnhof große Bauten, auch von hier oben als k.k. oder k.u.k. identifizierbar, und die die Stadt im Norden, Westen und Osten umgebenden grün überwucherten Erhebungen, deren einstige militärische Funktion noch erahnbar ist. Die Lage war wesentlicher Grund, dass Przemysl militärisch wichtigste Stadt Österreich-Ungarns wurde: Im Herzen Galiziens gelegen, sollte es Kommandozentrale für einen Krieg gegen die russischen Armeen sein und gleichzeitig deren Übergang über die Karpaten nach Ungarn verhindern.
Przemysl war Symbol der Donaumonarchie: ihrer militärischen Macht, des friedlichen Nebeneinanders mehrerer Volksgruppen (Polen, Ruthenen, Juden, das übernationale Militär) und Konfessionen (griechisch- und römisch-katholisches Bistum, mehrere Synagogen), der Bildungsoffensive (fünf Gymnasien), aber auch ihrer Wirtschaftskraft und Innovationen: die Bahnanlagen entsprachen den letzten technischen, die Spitäler den jüngsten hygienischen und medizinischen Standards; allein die Festungsbauten kosteten ca. 55 Millionen Kronen (etwa 140 Millionen Euro).
Przemysl war so etwas wie eine Musterstadt im Angesicht Russlands, und die nach Verdun größte Festung Europas; 1913 ist die Kleinstadt, die in diesem letzten Friedensjahr 40. 000 zivile und 15.000 militärische Einwohner hat, von 60 Forts in zwei Ringen umgeben, der äußere mit 15 km Radius. Darin Infanteriestützpunkte, Munitions- und Verpflegungsdepots, Schlacht-, Selch- und Pökelanstalten, Bäckereien, Fesselballon- und Radiostationen, vier Flugplätze, Kasernen, Offizierskasinos, Spitäler, durch ein Feldbahnnetz sowie befestigte Straßen verbunden.
Als am 6. August 1914 beginnt, worauf sich drei Offiziersgenerationen vorbereitet glaubten, füllen sich die Festungswerke, die Logistikeinrichtungen und der Rayon mit 100.000 Soldaten, die Hälfte der zivilen Einwohner wird evakuiert (u.a. in das Lager Thalerhof bei Graz). Von Wien aus setzt sich der Train des Armeeoberkommandos in Marsch, das im Kriegsfall "R" in Przemysl zu stationieren ist - der Oberkommandant FM Erzherzog Friedrich richtet sich sein Kriegshofquartier mit weiteren Erzherzögen allerdings im bequemeren Jesuitenkonvikt von Chyrów ein (35 km südlich, heute in der Ukraine). Im Vorfeld der Werke holzen zehntausende Landstürmer 1.000 Hektar Wald ab und ebnen 21 Ortschaften ein, um freies Glacis zu haben.
Ende August wird aus dem Schauspiel überraschend bitterster Ernst: Hiobsbotschaften von der Belagerung und am 2. September vom Fall des nur 90 km östlich gelegenen Lembergs, von den verlorenen Schlachten von Rawa Ruska und Grodek, 40 km östlich (ihr Grauen veranlasst den Leidenszeugen Georg Trakl zum Gedicht "Grodek" mit den Anfangsworten "Am Abend tönen die herbstlichen Wälder von tödlichen Waffen"). Am 12. September verlässt das AOK Przemysl wieder, zunächst nach Neu-Sandez (Novy Sacz), dann nach Teschen (s. Folge 39). Die Spitäler füllen sich mit Verwundeten, die ersten Kriegerfriedhöfe müssen gebaut werden.
Am 22. September schließt sich der Belagerungsring um die Stadt. Anfangs Oktober werden zehntausende russische Infanteristen gegen die Forts getrieben, ohne artilleristische Vorbereitung. Diese Angriffe können von den gut verschanzten Österreichern abgewehrt werden, allein vor dem Fort XI, Dunkowiczki, fallen 4.000 Russen.
Am 10. Oktober gelingt es k.u.k. Truppen, den Belagerungsring zu durchbrechen, am folgenden Tag werden in allen Kirchen Gottesdienste zum Dank an Gott und Kaiser abgehalten. Kurzzeitig kann die Freihaltung der Bahnverbindung vom Süden, aus dem oberungarischen Kaschau (Kosice) erkämpft werden. Ende Oktober erscheint Thronfolger Karl, besichtigt und zeichnet aus. "Ruhm ist billig zu haben. Es regnet Orden und Auszeichnungen, und ein Tropfen aus dem Platzregen fällt noch für manchen ab, der nichts weiter getan hat, als dass er zur rechten Zeit ohne Regenschirm auf der Gasse stand", schrieb ein Augenzeuge.
Am 12. November schließt sich der Belagerungsring von neuem, um 160.000 Menschen, deren einzige Verbindung nach außen Funksprüche sind und Flugzeuge, die bei gutem Wetter Post aus der Festung und Medikamente einfliegen. Nun ist die Taktik der Russen eine andere: Beschießung der Forts mit schwerer Artillerie, danach vorsichtiges Erkämpfen einzelner Befestigungen im äußeren Ring. Bald haben sie zwei zuverlässige Verbündete: Kälte und Hunger.
Da der Krieg im Sommer begann und die k.u.k. Armee damit rechnete, zu Weihnachten wieder zu Hause zu sein, hatte niemand für Winterbekleidung der Mannschaft gesorgt - und der Winter fiel am 19. November mit sogar für Galizien besonderer Härte ein. Und man hatte die Zahl der in der Stadt verbliebenen Zivilisten unterschätzt. Rechnerisch sollten in den Magazinen Lebensmittel für 135 Verpflegstage sein, doch schon im Dezember gingen die Vorräte zur Neige. Nach und nach mussten die 15.000 verbliebenen Pferde geschlachtet werden - was die Beweglichkeit der Truppe stark einschränkte -, dann Katzen, Hunde und sogar Ratten, um wenigstens eine Grundversorgung mit Fleisch zu haben; dem Brotmehl musste Birkenholzmehl beigemischt werden, Gemüse gab es nur in gedörrter Form, nur Rum war noch ausreichend vorhanden. Die Zahl der Kranken und Maroden nahm zu, der Deserteure aus slawischen Einheiten. Weihnachten vergeht ohne Hoffnung, die Soldaten erhalten einen Schluck Rum als Geschenk.
Am 19. März wird ein Ausbruch versucht, nach Osten, da dort russische Verpflegsmagazine nahe sind. Im Schneesturm und gegen die wohl durch Verrat informierten Russen bleiben die ausgemergelten Truppen schon nach wenigen Kilometern liegen, 10 000 Österreicher dürften gefallen sein. Am 20. März gibt das AOK dem Festungskommandanten, General Kuzmanek, die Übergabe frei: "Sobald Verpflegung längeres Halten unmöglich, Übergabe daher notwendig macht, muss vor Überlassen der Festung an den Feind alles Kriegsmaterial vernichtet werden".
Am 22. März werden Teile der Werke gesprengt, Geschützrohre zum Bersten gebracht, in der Selchanstalt Banknoten im Wert von 7 Millinen Kronen verbrannt - worüber noch ein Protokoll angefertigt wird, die Militärbürokratie arbeitete bis zuletzt -, und, vor dem Fällen auch des letzten Sendemastes, der letzte Funkspruch nach Teschen chiffriert abgesandt: "Kriegsmaterial aller Art gesprengt bzw. zerstört, Bevollmächtigte zum Blockadearmeekommando zwecks Unterhandlungen abgegangen. Chiffreschlüssel vernichtet. Unser Schicksal schwer empfindend wünschen wir den Feldarmeen Ruhm und Sieg!"
Am 23. März wird Kuzmanek im Festungskommando in der Mickiewicza 24, mitten in der unzerstörten Stadt, gefangen genommen, mit 8 anderen Generälen - als Zeichen seiner Ehrschätzung lässt ihnen der russische General, den man um die für den nächsten Tag geplante Eroberung gebracht hat, die Säbel. 120.000 k.u.k. Offiziere und Soldaten werden gefangen, in Arbeitslager jenseits des Ural gebracht; wenige werden von dort fliehen können, viele an Hunger, Entkräftung und Seuchen sterben.
Am 24. März erlässt Erzherzog Friedrich einen Armeebefehl: "..Den unbesiegten Helden von Przemysl unseren kameradschaftlichen Gruß und Dank; sie wurden von Naturgewalten und nicht durch den Feind bezwungen, sie bleiben uns ein hehres Vorbild treuer Pflichterfüllung bis an die äußerste Grenze menschlicher Kraft. Die Verteidigung von Przemysl bleibt für ewige Zeiten ein leuchtendes Ruhmesblatt unserer Armee." Karl Kraus arbeitet den Fall von Przemysl in seine "Letzten Tage der Menschheit" ein, die Szene gibt wieder, wie schwer sich die Armeeführung mit dem Bekenntnis der Wahrheit über dieses Desaster tat.
Am 3. Juni 1915 wird Przemysl von den Mittelmächten zurückerobert, allerdings ziehen als erstes deutsche Truppen in die Stadt ein. Österreichische Zeichnungen zeigen eine jubelnde Zivilbevölkerung, Fotos eine resignierende. Seine militärische Bedeutung hatte Przemysl verloren.
Nach dem Krieg erschienen zahlreiche Erinnerungen und Studien (die das Halten meist negativ beurteilen, da während der zweiten Belagerung kaum russische Truppen gebunden wurden, aber dadurch 130.000 Mann den k.u.k. Feldarmeen abgingen); im österreichischen Nationalrat gab es 1919/21 sogar eine (schließlich eingestellte) Untersuchung: Warum war keine Bahnverbindung direkt nach Süden, fern der russischen Grenze, gebaut worden (aus Geldmangel), wurden Fehler bei der Verproviantierung gemacht? Hermann Kuzmanek rückte am 7. August 1934 "zur großen Armee" ein, sein Begräbnis mit militärischem Zeremoniell war das letzte eines kaiserlichen Generals in Wien.
Heute stehen die Ruinen der Forts unter Denkmalschutz. Einige können noch - mit Vorsicht, da ihr Verfall nicht aufgehalten ist - besucht, auf zwei soll hingewiesen werden: Das 1885 gebaute Fort Salis-Soglio war das größte und ist mit seinen unterirdischen gemauerten Gängen, den Erdwällen und dem recht gut erhaltenen Festungstor noch heute imposant. Da die polnischen Grenzen ja 1945 um 200 km nach Westen verschoben wurden, liegt es heute unmittelbar an der ukrainischen Grenze (Zufahrt von Przemysl auf der E 40 ostwärts, Richtung Lwow/Lemberg, nach 7 km südlich nach Sideliska abbiegen, und in diesem Ort, nach 3 km, nach Osten, noch 1 km auf einem Fahrweg).
Ein modernerer, um 1910 gestalteter Typ ist das erwähnte Fort XI, das völlig in einen Hügel eingebettet ist, und von einem tiefen Graben und Stacheldrahtverhauen umgeben war, die bei Bedarf mit Starkstrom geladen wurden. Heute hat es als Bauernhof eine neue Verwendung gefunden, in seinen Kasematten werden Champignons gezüchtet. Nach Fort XI fahren Sie 8 km auf der E 40 nach Norden (Richtung Lancut) und biegen auf einer Hügelkuppe nach Westen ab, nach dem Weiler Dunkowiczki (1 km) liegt es nördlich.
Der Toten zu gedenken, besuchen wir den Friedhof von Zasanie. Durch Gräberzusammenlegungen klein geworden, doch gut erhalten, sind hier Grabsteine von wenigen der zehntausenden toten oder verschollenen Altösterrreicher. Das mächtige Kreuz, zu Allerheiligen 1916 eingeweiht, sollte an Gipfelkreuze in den Alpen erinnern, aus deren Tälern viele der Gefallenen wenige Monate zuvor lebensfroh ausgerückt waren.
Von Kraków (s. Folgen 68, 69) sind es auf der E 40 ca. 240 km nach Przemysl, auch mit guter Bahnverbindung (ca. 3 Stunden). Direkte Autozufahrt von Wien: Bratislava, über die großteils fertiggestellte, vignettenpflichtige slowakische Autobahn, vorbei an Piestany - ilina - Poprad - Presov - Barwinek - Sanok (ca. 620 km). Przemysl-Infos: mail@um.przemysl.pl
In Wien: Polnisches Fremdenverkehrsamt, 1080 Wien, Lerchenfelder Straße 2, Tel. 524 71 91, Fax 524 71 91 20, email: info@poleninfo.at. An Hotels sind zu empfehlen: Gromada** , im Westen der Altstadt beim San-Ufer (przemysl@hotelgromada.pl; Tel. +48 16 676 11 11); Schlosshotel Krasiczyn (12 km südwestl., an der Straße von Sanok; hotel.krasiczyn@motronik.com.pl ; Tel. +48 16 671 83 16). Die Forts sind frei zugänglich; der Friedhof (Cmentarz) Zasanie liegt im Norden, in der Boleslawa Smialego (600 m nach der San-Brücke nach Westen abbiegen). Auf der Gedenktafel für die Wohltäter des Friedhofs könnte ihnen ein Name auffallen: GM Gustav Stowasser - er war nach der Wiedereroberung Festungskommandant: Ich nehme an, er war der Großvater von Friedensreich Hundertwasser.
Meine Leser wissen, dass in der Serie aus Platzgründen Hinweise auf verwendete Literatur fehlen. Hier die Ausnahme, der die achtende Ehre eines Zitates gegeben werden muss: Franz Forstner, Przemysl. Österreichs bedeutendste Festung (Wien 1987). Vielleicht hat der (querschnittgelähmte) Autor den Ort seiner umfassenden militärhistorischen Dissertation nie besucht. Sie hat mir das Schicksal der Menschen in Przemysl nahe gebracht.