London hat seine Rechnung gemacht, ohne die europäischen Partner miteinzubeziehen.
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London/Brüssel. Nach den Abstimmungen im Londoner Parlament ist zwar einigermaßen klar, was die Abgeordneten wollen: Nachverhandlungen mit der EU über die Nordirlandfrage und keinen ungeregelten Brexit. Das Problem: Die Europäische Union wehrt sich dagegen, den Deal mit den Briten wieder aufzuschnüren. Vor allem beim Backstop, der eine harte Grenze auf der irischen Insel verhindern würde, wird es keine Änderungen geben, hieß es auch am Mittwoch wieder aus Brüssel. Ähnlich sieht es beim zweiten in Westminster gefundenen Konsens aus: Wenn keine Lösung gefunden wird, verlassen die Briten die EU am 29. März ohne Abkommen, ob sie das wollen oder nicht. Die Abgeordneten haben ihre Rechnung ohne ihre europäischen Partner gemacht.
In Brüssel herrschte am Mittwoch Verwirrung. "Es war ja klar, dass das so nicht geht", sagt ein mit der Angelegenheit vertrauter Diplomat im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Wir werden die Iren nicht unter den Bus werfen, um die Tories zu einen." Einigkeit gibt es bei den Briten lediglich über Wünsche, die ihnen die EU nicht erfüllen will - das sei "fast schon bösartig": "Sie wissen, was für uns ein Riesenproblem ist. Genau dort versuchen sie jetzt, uns unter Druck zu setzen."
Zwar sei das alles ärgerlich, das Verhalten Londons unreif. Doch führe es zu einer wichtigen Debatte: "Müssen wir auch unreif sein?" Gemeint ist die Frage, ob es vielleicht doch vernünftiger und besser für alle Beteiligten wäre, den Backstop zeitlich zu begrenzen - etwa bis 2025, einen Zeitpunkt also, an dem es ohnehin längst ein dauerhaftes Abkommen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich geben sollte. "Oder riskieren wir, dass wir schon am 30. März eine harte Grenze in Irland haben?"
Eine harte Grenze würdealte Wunden aufreißen
Für Dublin sind die Entwicklungen besorgniserregend. Eine harte Grenze auf der Insel mit Waren- und Personenkontrollen wäre nicht nur eine wirtschaftliche Katastrophe. Rund 30.000 Menschen pendeln jeden Tag zwischen dem EU-Land und der britischen Provinz Nordirland, Waren und Güter passieren zollfrei. Zudem handelt es sich um eine historisch sensible Grenze. Während des Nordirlandkonflikts war sie durch Wachtürme und schwer bewaffnete Soldaten gesichert. Gerade einmal zwanzig Jahre ist es her, dass der blutige Bürgerkrieg in Nordirland mit dem Karfreitagsabkommen ein Ende fand. Eine harte Grenze könnte die alten Wunden wieder aufreißen. Sie würde die (irischen) Katholiken im Norden, die mehrheitlich gegen den Brexit waren, weiter von der Republik im Süden entfernen. Nordirland droht, zum Waisenkind zu werden.
Deshalb wehrt sich Dublin so vehement dagegen, den Backstop zu verwässern. Was aber, wenn die restlichen 26 Mitgliedstaaten im Angesicht eines No-Deal-Brexit am 29. März doch noch einknicken? Dublin hat zwar ein Veto-Recht, aber: "Wenn alle anderen dafür sind, kann das kleine Irland das nicht durchhalten", sagt der Diplomat. "Das ist die Gemeinheit, die May im Kopf hat: Sie werden schon einknicken."
Jeder Politiker, so ist der Diplomat überzeugt, verschiebt ein Problem lieber um ein paar Jahre, als sofort mit der Katastrophe konfrontiert zu sein. "Der irische Premier Leo Varadkar wird nicht der sein wollen, der jetzt Kontrollen an der Grenze einführt."
Genau das dürfte auch das britische Kalkül sein. London interessiert sich nicht für die Probleme auf der Nachbarinsel. Die Briten wollen keine Sonderregelung für Nordirland. Sie wollen so schnell wie möglich unabhängig von der EU agieren und rasch neue Handelsverträge abschließen - was sie nicht tun könnten, solange der Backstop in Kraft ist. Die Brexiteers fürchten, dass die Regelung sie auf unbestimmte Zeit eng an die EU bindet.
Was ist also die Alternative, wie könnte der Backstop abgelöst werden? "Es gibt vier Wege", sagt der Diplomat: ein Verbleib des Königreichs in der Zollunion, Zollkontrollen auf der Irischen See, Zollkontrollen auf der irischen Insel oder die Wiedervereinigung Irlands. "Die Briten schließen alle diese Optionen aus." Zwei Jahre habe die britische Premierministerin Zeit gehabt, um Brüssel zu verraten, was die Briten wollen. Nun müsse sie eine Entscheidung treffen. "Die Geister, die sie rief, verfolgen sie jetzt."
Brexit-Minister feiertdie Abstimmung als Erfolg
Indes feiern britische Boulevardblätter sowie Brexit-Minister Stephen Barclay die Abstimmungen vom Dienstag als großen Erfolg für May. "Die Dynamik hat sich geändert, die Premierministerin kehrt nun mit einem klaren Auftrag zurück nach Brüssel", sagte Barclay. Im Interview mit BBC Radio konnte er auch auf wiederholte Nachfragen keine Antwort auf die Frage geben, wie eine Alternative zum Backstop aussehen könnte. "Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten", hielt er es vage. Dazu gehörten zeitliche Begrenzungen, Optionen zum Ausstieg und technische Lösungen bei Grenzkontrollen. Diese Punkte wolle man in den kommenden Tagen mit der Europäischen Union verhandeln.
"Wir haben das alles schon durchgekaut", sagte der irische Außenminister und Vize-Premier Simon Coveney dem Sender RTE. Bei den zweijährigen Verhandlungen habe man nach Wegen gesucht, um eine harte Grenze auf der Insel zu vermeiden - und keinen gefunden. "Und jetzt wirbt die britische Premierministerin schon wieder für die selben Dinge." Auch die Reaktionen aus Brüssel klingen mittlerweile müde, wie die endlose Wiederholung der immer selben Phrasen, die sie ja auch sind. Die Regierung in Dublin kann nur hoffen, dass sie nicht in letzter Minute umgeschrieben werden.