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Analyse: Wirtschaftskrise und Krise der Sozialdemokratie ist ein Zwillingspaar.
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London/Berlin/Paris/Madrid. Bis zu 3000 Gäste, prächtige Stimmung im Wiener Gartenhotel Altmannsdorf und einen kräftigen Schub für den Nationalratswahlkampf. So stellen sich die SPÖ-Strategen den Ablauf des an diesem Wochenende stattfindenden traditionellen Sommerfestes vor. Zynisch formuliert könnte den Sozialdemokraten nichts Besseres passieren. Seit mehr als fünf Jahren beherrschen Finanz- und Wirtschaftskrise die Schlagzeilen. Die Arbeitslosigkeit erreicht in Europa neue Höchststände, das Vertrauen in einst hochgejubelte Marktbereiche ist tief erschüttert - beste Voraussetzungen für die selbst ernannte "Partei der Arbeit", wie die SPÖ im Frühjahr 2013 plakatierte, könnte man meinen. Doch quer durch Europa fehlt es der Linken an Rezepten, um gegenzusteuern. Man muss nicht deren Säulenheilige Brandt, Kreisky und Palme bemühen, um die inhaltliche Leere zu konstatieren. Zwar werden derzeit mit Frankreich und Italien zwei EU-Großmächte von einem linken Premier bzw. Präsidenten regiert (siehe Grafik). Dabei handelt es sich aber um wirtschaftlich wankende Giganten.
Vom sogenannten "Dritten Weg" hat sich die Sozialdemokratie zwar öffentlich distanziert, jedoch bis heute nicht erholt. Nichts weniger als die endgültige Überwindung der Gräben zwischen Arbeiterbewegung und Kapitalismus hatten in den späten 1990ern Großbritanniens Premier Tony Blair und Deutschlands Kanzler Gerhard Schröder vor Augen. Frappierende Parallele der beiden waren die langen Durststrecken ihrer Parteien: Der einst als Sonnyboy der Linken gefeierte Blair zog nach 18 Jahren ununterbrochener Regentschaft der Konservativen in Downing Street Nummer 10 ein; die Abkehr vom unter Margaret Thatcher eingeleiteten Deregulierungsprozess stand für ihn nie infrage.
Irrweg "Dritter Weg"
Schröder löste den 16 Jahre regierenden Helmut Kohl 1998 ab. Unter dem SPD-Kanzler wurde die "Deutschland AG" entscheidend aufgeweicht. Banken und Versicherungen schraubten ihre Beteiligungen an führenden Industrieunternehmen zurück, die engen Verbindungen zwischen Politikern, Vorständen und Aufsichtsräten wurden loser. Geöffnet hat sich das Land auch gegenüber dem internationalen Finanzmarkt, so wurden unter Rot-Grün etwa Hedgefonds zugelassen. Und mit der Agenda 2010 wurden Arbeitsmarkt und Sozialsystem liberalisiert und flexibilisiert: Einerseits konnte die Arbeitslosenzahl von fünf auf unter drei Millionen gedrückt werden, andererseits stagnieren die Reallöhne seit zehn Jahren.
Entgegengesetzt wurde Blair und Schröder von links damals wenig. Der vom "Dritten Weg" wenig angetane französische Premier Lionel Jospin scheiterte 2002 grandios bei der Präsidentschaftswahl - seine Parti socialiste beschäftigte sich danach mehr mit Personalia und Intrigen denn mit der inhaltlichen Erneuerung. Wie weit sich die französischen Sozialisten und die SPD voneinander entfernt haben, verdeutlichte Schröder im Mai in einem Interview. "In Frankreich wird sich nach meiner Überzeugung die Erkenntnis durchsetzen, dass man nicht auf Dauer gegen wirtschaftliche Notwendigkeiten Politik machen kann", kritisierte Deutschlands Ex-Kanzler die Steuer- und Arbeitsmarktpolitik im westlichen Nachbarland. Zwar kehrte Schröder der Politik bereits vor Jahren den Rücken, seine Agenda 2010 ist aber bis heute weitgehend gültig - und sorgte für eine weitere Fragmentierung des linken Lagers in Deutschland.
2004 formierte sich insbesondere aus Gewerkschaftskreisen die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), die mittlerweile mit der ostdeutschen SED-Nachfolgerin zur Linkspartei fusionierte. Seit der Abspaltung der Agenda-Gegner kam die SPD nie mehr über Platz zwei bei Bundestagswahlen hinaus; 2005 und 2009 konnte sich Angela Merkel die Kanzlerschaft sichern. Und katastrophal läuft der SPD-Wahlkampf für die heurige Bundestagswahl, 15 Prozentpunkte liegen die Sozialdemokraten hinter Merkels CDU/CSU, für Kanzlerkandidat Peer Steinbrück - der die Agenda 2010 mitgestaltet hat und nun zähneknirschend von ihr abrücken muss, um die Parteibasis zufriedenzustellen - weisen die Meinungsforscher miserable Sympathiewerte aus.
Flucht in Symbolpolitik
Notorisch zerstritten waren auch die italienischen Linksparteien, erschwerend kam die Zersplitterung des Lagers hinzu. Linksliberale, Sozialdemokraten, Linkskatholiken und ehemalige Kommunisten standen sich seit der Implosion des Parteiensystems Anfang der 1990er mehr im Weg, denn an der Ablösung von Silvio Berlusconi zu arbeiten. Die turbulente Geschichte zeigt sich an dem Partito Democratico des derzeitigen Ministerpräsidenten Enrico Letta: Die Partei entstand 2007 aus der Democratici di Sinistra - die wiederum aus der Kommunistischen Partei hervorgegangen war - und aus der gescheiterten Sammelbewegung La Margherita. Letta darf sich daher nicht nur mit dem Koalitionspartner streiten, sondern muss stets für parteiinterne Ruhe sorgen. Für einen inhaltlichen Einigungsprozess der Bewegung bleibt da nur wenig Spielraum.

Selbst die historisch so bedeutende schwedische Sozialdemokratie ist in das Krisen-Fahrwasser geraten. Seit sieben Jahren regiert der konservative Premier Fredrik Reinfeld und führt seine linken Kontrahenten vor. Und Spaniens Regierung unter dem Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero konnte zwar einige Boom-Jahre ab 2004 vorweisen. Doch Zapatero setzte auf den völlig aufgeblähten Bau-und Immobiliensektor, seine Regierung hat die jetzige Malaise mitzuverantworten. Noch trister ist die Lage in Mittel- und Osteuropa: Wo dort Linke regieren, sind sie entweder populistisch (Slowakei), beliebig (Litauen) oder höhlen die Verfassung aus (Rumänien).
27 Millionen Personen sind in der EU derzeit ohne Beschäftigung, jeder vierte Spanier und Grieche sucht eine Stelle. Schnelle Gegenmaßnahmen gibt es nicht, unqualifizierte Arbeitskräfte können nicht wie früher in geschützten Branchen oder Staatsbetrieben untergebracht werden. Wenn Sozialdemokraten nicht wissen, wie die Millionen von Arbeitslosen wieder im Jobmarkt Fuß fassen können, stehen sie vor einem großen Legitimitätsproblem in ihrer Kernkompetenz Beschäftigungspolitik. Statt Lösungen für die großen Probleme zu finden, bleiben nur Kämpfe auf symbolträchtigen Nebenschauplätzen, wie im Ringen um eine Finanztransaktionssteuer.
Auf harten Sparmaßnahmen beharrt Deutschlands konservativ-liberale Regierung im Einklang mit dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank auf - und kann bisher ohne großen Widerstand ihr Programm verfolgen. "Wenn Norden und Süden aber gleichzeitig sparen, dann entsteht ein Ungleichgewicht, das uns immer tiefer in die Rezession treibt", warnt "Financial Times"-Journalist Wolfgang Münchau. Er fordert Europas Sozialdemokratie zu einer Kehrtwende in der Haushaltspolitik auf: Krisenländer wie Spanien, Griechenland und Italien sollen weiter sparen, ihre Exportindustrie von einer Ankurbelung der Nachfrage im Norden des Kontinents profitieren.
Während Angela Merkel als Gesicht des Austeritätskurses gilt, wirken Europas Sozialdemokraten und Sozialisten bei der Krisenbekämpfung seltsam unkoordiniert. Niemand kann oder will ein Gegengewicht zu Deutschlands Kanzlerin herstellen. Jene Zersplitterung macht sogar vor dem Verbund der linken Parteien weltweit, der "Sozialistischen Internationale" (SI), nicht halt. Anlässlich des 150. Geburtstages der deutschen Sozialdemokratie formierten sich im Mai 70 Gruppierungen aus allen Kontinenten zur "Progressiven Allianz" (PA). Korrupt, reformunfähig und während der Finanzkrise stumm geblieben, so lauteten die Vorwürfe an die SI. Auch dass die Partei des ehemaligen ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak erst spät aus der SI ausgeschlossen wurde, ging plötzlich zulasten der Organisation. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität solle dagegen das Motto der PA sein. Als ob es derzeit keine gröberen Probleme zu lösen gebe.