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Dem Soziologen Max Haller fehlen in Österreich Führungspersönlichkeiten.
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"Wiener Zeitung": Wir feiern am Montag den Nationalfeiertag. 77 Jahre nach dem "Anschluss" stellen nur mehr sieben Prozent der Bevölkerung die österreichische Nation infrage - 1956 waren es noch 47 Prozent. Aber was bedeutet der Begriff Nation noch für ein Land, das seit 1995 Teil der Europäischen Union ist?Max Haller: Die Nation hat weiter große Bedeutung. Natürlich ist sie durch die Europäische Union relativiert, aber auch in der EU sind sowohl von der Verfassung her als auch von der Politik die Nationalstaaten bestimmend. Die wichtigsten Parameter einer Nation werden immer noch von den Nationalstaaten bestimmt: das Militär, die Polizei, der Wohlfahrtsstaat. Wenn man über Europa hinaus blickt, ist die Frage des Endes des Nationalstaates überhaupt nicht aktuell. Die USA, China, Russland, Brasilien, Indien - das sind alles Nationalstaaten, die nicht daran denken, in einem größeren Ganzen aufzugehen.
Bleiben wir in Europa: Wer wofür zuständig ist, ist den Bürgern oft nicht mehr klar. Innerhalb des Schengen-Raums sind die Grenzen verschwunden. Die Grenzsicherung sollte an den Außengrenzen der EU erfolgen, was aber nicht wirklich funktioniert.
Die jetzige Situation ist außergewöhnlich. Das hat es seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr gegeben, dass Menschen in so großen Gruppen kommen. Sie stellen eine große Belastung, dar, aber nicht wirklich eine Bedrohung der Sicherheit.
Die Lösung dieser Flüchtlingskrise scheitert aber nicht zuletzt an den Nationalstaaten.
Ja, aber es ist ein Fehler zu sagen, Nationalstaat ist Chauvinismus, bedeutet Krieg. Das ist eine Perversion der nationalen Idee. Der Nationalstaat hat viel Positives gebracht: Schulbildung, Gesundheitsversorgung, den Wohlfahrtsstaat. Die US-Amerikaner halten die Idee der Nation besonders hoch und sind für die ganze Welt attraktiv. Das Hauptproblem in der Welt sind nicht die Nationalstaaten, sondern die Diktaturen, die autoritären Staaten. Russland, teilweise die Türkei, Saudi Arabien, der Iran - das sind Staaten, die keine Demokratie haben. Das Problem ist die fehlende Demokratie, nicht der Nationalstaat.
Ist das kollektive Denken in Österreich, quasi ein Recht auf einen möglichst frühen Pensionsantritt zu haben, der letzte Rest eines Nationalgefühls?
Nein. Nehmen Sie Schweden oder die Schweiz - beides Staaten, die die nationale Idee hochhalten, aber beide haben in den 1990er Jahren massive Reformen durchgeführt.
Österreich ist eines der sozialsten Länder der Welt. Die Menschen gehen durchschnittlich mit 59 Jahren in Pension, es gibt Kindergeld, es gibt hohe Transferleistungen, es gibt eine Mindestsicherung und so weiter. Dennoch scheinen die Menschen sehr unzufrieden zu sein. Woran liegt das?
Bei den Jungen ist die Unzufriedenheit darin begründet, dass sie nicht daran glauben, selbst noch in den Genuss dieser hohen Sozialleistungen zu kommen. Proporzdemokratie und Bündesystem begründen den Unmut in der Bevölkerung. Die frauenlose oberösterreichische Landesregierung ist ein Beispiel, das zeigt, dass die Parteien nicht verstehen, was den Menschen wichtig ist. Die Parteien bestimmen alles, aber die Menschen wollen mitbestimmen.
Was also wäre zu tun?
Es fehlt am Reformwillen und es fehlt an Führungspersönlichkeiten - es fehlen Menschen mit dem Willen zu Veränderung. Das liegt am System. Junge, unabhängige Politiker haben praktisch keine Möglichkeit, sich zu entwickeln. Das Parlament bietet dafür keine Bühne, weil dort keine Entscheidungen fallen.
Max Haller war Professor für Soziologie an der Karl Franzens Universität in Graz, wo er mit 68 Jahren vor Kurzem emeritierte. Schwerpunkte seiner Forschungstätigkeit sind Sozialstruktur- und Wertewandel.