Genf beherbergte einst den Völkerbund und ist seit langem Sitz wichtiger UNO-Einrichtungen. Es überrascht nicht, dass dort seit 1927 eine in Theorie und Praxis führende Ausbildungsstätte für Diplomaten, kurz HEI genannt, angesiedelt ist.
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"Sonnengeflecht Europas" nannte der Schweizer Schriftsteller Gonzague de Reynold in der Zwischenkriegszeit seine Heimat, die seit 1919 in Genf den Völkerbund beherbergte. Bis zur unrühmlichen Auflösung der Vorgängerorganisation der Vereinten Nationen engagierten sich Diplomaten des neutralen Landes mit ungewöhnlichem Elan als politische Berater und Konfliktschlichter, um der Welt weitere Kriege zu ersparen.
Die "künftige Hauptstadt des Friedens", wie die Calvinstadt gerne apostrophiert wurde, bot ein günstiges Umfeld für Lehrinstitute, die auf internationale Laufbahnen vorbereiteten. Zu den traditionsreichsten Schulen der hohen Diplomatie entwickelte sich das 1927 eröffnete "Institut de hautes études internationales", kurz HEI genannt. Seine Gründer, der Westschweizer Diplomat William Rappard und der französische Wirtschaftshistoriker Paul Mantoux, schufen schon damals die Grundlagen für eine weltweit angelegte Lehr- und Forschungstätigkeit.
Mit dem Aufstieg des Faschismus entwickelten sich Genf und vor allem das HEI zu einer intellektuellen Zufluchtsstätte für politisch verfolgte Wissenschaftler, unter ihnen der liberale Ökonom Wilhelm Röpke und Ludwig von Mises, die aus Deutschland stammten.
Dozenten aus 18 Ländern
Nach 1945 trieb der Waadtländer Direktor Jacques Fremond 23 Jahre lang die Öffnung seines Instituts weiter voran, aus seinem Afrika-Institut entwickelte sich das renommierte "Institut universitaire d'études du développement", das auf Entwicklungsstudien spezialisiert ist. Kaum ein Lehrinstitut ist heute stärker international zusammengesetzt als das HEI, das etwa fünfzig Dozenten, darunter ein Dutzend Gastdozenten, aus 18 Ländern beschäftigt. Rund Tausend Studierende, vor allem aus der Schweiz und anderen europäischen Ländern, besuchen die Kurse. Das HEI befindet sich in der Trägerschaft einer gemeinnützigen Stiftung und ist mit der Universität Genf traditionell eng verbunden.
Im Vorjahr erhielt das Institut ein Budget von 15 Millionen Franken, knapp über 46 Prozent stammen vom Kanton Genf, den Rest steuern überwiegend der Bund in Bern und weitere Institutionen bei.
Privilegierte Beziehungen pflegt das HEI mit den Vereinten Nationen, deren europäische Vertretung in der Calvinstadt liegt. Durch seinen Besuch anlässlich der 75-Jahr-Feier des Instituts hatte UN-Generalsekretär Kofi Annan dem HEI 2002 symbolisch die höheren Weihen erteilt.
Die Schweizer Regierung vergibt regelmäßig Politikforschungsprojekte an das Institut, das Veranstaltungen zu den Themengebieten Internationale Geschichte, Politikwissenschaft, internationale Wirtschaft und internationales Recht anbietet.
Dynamischer neuer Direktor
Das Institut mit Hauptsitz in der Villa Barton am Genfersee hat einen neuen Direktor, der seiner Lehrstätte international zum Durchbruch verhelfen will: Philippe Burrin (53), der als gebürtiger Walliser selbst am HEI den Doktortitel erworben hat. Das Institut soll künftig "erste Adresse für Forschung und Lehre" sein - eine diplomatische Kaderschmiede, deren Kursteilnehmer vielleicht demnächst "Seite an Seite mit dem künftigen UN-Generalsekretär" und weiteren Spitzenbeamten im diplomatischen Dienst studieren werden, verspricht Burrin, der als junger Mann den Dienst in der Schweizer Armee verweigert hatte und von der Polizei observiert worden war.
Der einstige Rebell, wie er sich selbst bezeichnet, sieht im Bologna-Prozess für sein Institut die Chance, "weltweit an Ansehen zu gewinnen" und vor allem Studienteilnehmer aus den angelsächsischen Ländern nach Genf zu locken. Mit herausragenden Instituten will Burrin einen weltweiten Lehr- und Forschungsverbund aufbauen. Bereits jetzt wird ein erster interdisziplinärer Abschluss angeboten; bis zum Abschluss der Bologna-Reform, die das HEI für 2007 anpeilt, bietet das Institut die Abschlüsse Licence (Lizentiat, das man an der Genfer Universität beginnt und zwei Jahre darauf am Institut bis zum Schlussexamen fortsetzt), "Diplôme d'études approfondies en relations internationales" (DEA) und Doctorat.
Vergleichsweise moderate Studiengebühren - für das DEA sind pro Semester 1.020 Franken fällig, für die Licence etwa die Hälfte - dürften für den gewaltigen Bewerberandrang mitverantwortlich sein, inzwischen platzt das HEI, das außer der Villa am See noch einige Pavillons im Stadtgebiet besitzt, aus allen Nähten.
Schweizer Bewerber müssen gegenwärtig einen "gut benoteten" BA-Abschluss in zwei Fächern vorlegen. Bei Ausländern werde das jeweils eingereichte Dossier sorgfältig geprüft, heißt es.
Breit angelegtes Studium
Achim Wennmann (29), der in Brüssel aufwuchs und schon in England studiert hat, arbeitet am HEI in Genf an einem Doktorat in internationalen Beziehungen. Er schätzt an den meist auf Englisch abgehaltenen Arbeitsgruppen, dass sie "klein und international gemischt sind und stets ein umgänglicher Ton vorherrscht". Ein wahres Juwel nennt Wennmann die "unwahrscheinlich gut bestückte Institutsbibliothek", in der vor allem Völkerrechtler mit speziellen Forschungsschwerpunkten fündig würden.
Trotz relativ starken Leistungsdrucks bei den Studien komme der Praxisbezug nicht zu kurz. Abgerundet wird das Studium durch Besuche bei den 17 internationalen Einrichtungen und 120 Nichtregierungsorganisationen, die Genf zum Hauptsitz gewählt haben. Aber auch größere Reisen - etwa zu Verhandlungen des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag - sind fester Bestandteil des, so Wennmann, "sehr breit angelegten Studiums".
Eine besondere Stärke des HEI sieht Wennmann in Veranstaltungen zu den Themengebieten Vermittlung und Konfliktlösung: "Daran hat man in der Schweiz seit den Zeiten des Völkerbundes systematisch festgehalten", fügt er hinzu. Chancen böten sich anschließend in internationalen Institutionen, im Entwicklungsbereich, bei einer weltweit tätigen Stiftung oder in der Wirtschaft.
Neben der Ausbildung bietet das HEI Kursteilnehmern die Möglichkeit, an Projekten des Instituts aktiv mitzuarbeiten und sich dabei etwas Geld zu verdienen. Den Zuverdienst können Gaststudenten in der 160.000 Einwohner zählenden Stadt gut brauchen, bereits ein Zimmer kostet zwischen 700 und 1.200 Franken, rund 1.500 Franken für den Lebensunterhalt ist Wennmanns Erfahrung nach "nicht zu knapp angesetzt". Integrationsschwierigkeiten hat Achim Wennmann in Genf bisher nicht kennen gelernt: Er fühlt sich in dem kosmopolitischen Milieu der untypischsten Schweizer Stadt bestens aufgehoben.
HEI - Institut universitaire de hautes études internationales. Rue de Lausanne 132, CP 36, CH-1211 Genève.
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