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Die Geschichte einer verschmähten Liebe

Von Walter Hämmerle aus Baku

Politik

Kritik an den autoritären Strukturen im Land prallt ab.
| Mitten im Kaukasus träumt ein ganzes Land von Europa.


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Baku. Öl, Gas und Islam, noch dazu mehrheitlich in seiner schiitischen Variante. Mehr braucht es nicht, um im Gehirn eines durchschnittlichen Europäers eine einschlägige und wenig schmeichelhafte Assoziationskette auszulösen, die ungefähr so aussieht: die Männer mit wallenden Bärten, die Frauen bis zur Unkenntlichkeit verhüllt, Alkohol als Mangelware, religiöse Intoleranz, dafür aber Geld im Überfluss.

Öl, Gas und Islam, noch dazu mehrheitlich in seiner schiitischen Variante. All dies trifft auf Aserbaidschan zu. Ansonsten hat das Land im Kaukasus allerdings wenig gemeinsam mit den klassischen Stereotypen. In der Hauptstadt Baku an der Westküste des Kaspischen Meeres muss man Vollbart und Schleier fast mit der Lupe suchen, die Männer tragen dunklen Zwirn, die Frauen balancieren auf schwindelerregenden Absätzen und Alkohol gehört selbstverständlich zu einem guten Essen. Dazu ist Religionsfreiheit selbstverständlich. Einzig beim Reichtum stimmt das eingangs erwähnte Klischee.

Und investiert wird ebenfalls auf Teufel komm raus in Aserbaidschan, besonders in Baku, wo ab Dienstag der Eurovision Song Contest über die Bühne gehen wird. Eine Woche vor dem Startschuss gleicht die Hauptstadt noch in weiten Teilen einer Baustelle: Gebäude aus der Sowjetzeit werden aufwendig renoviert, Luxushotels und Prestigebauten schießen nur so aus dem Boden. Auch etliche österreichische Unternehmen naschen an dem Bauboom mit.

Dieses Land, das ist mit den Händen zu greifen und den Augen zu sehen, fiebert dem Songcontest entgegen. Keine Spur von jener ironischen Grundhaltung, die dem Ereignis im Westen entgegenschlägt. Im Kaukasus gilt dieser Wettbewerb als Synonym für Europa - und nichts will Aserbaidschan sehnsüchtiger, als endlich als Teil dieses Europas aufgenommen zu werden. Nicht zuletzt deshalb kämpften aserbaidschanische Soldaten an der Seite des Westens im Kosovo, Irak und heute noch immer in Afghanistan.

Doch der Westen, so empfinden es jedenfalls die meisten Aserbaidschaner, will nicht so wirklich. Washington, Brüssel, Berlin und Paris predigen ständig Demokratie, dabei habe doch ihr Land das Frauenwahlrecht vor den meisten westlichen Staaten eingeführt. 1918 war das, als Aserbaidschan für kurze 23 Monate eine unabhängige und noch dazu liberale Republik war, bis es 1920 von den Bolschewiken erobert wurde; erst 1991, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, erlangte das Land die Unabhängigkeit zurück.

Und dann ist da noch die größte Wunde im nationalen Gefühlskorsett der stolzen turkstämmigen Aserbaidschaner: Bergkarabach. Die mehrheitlich armenische Enklave wurde von Armenien 1992 bis 1994 samt einigen aserbaidschanischen Bezirken mit maßgeblicher russischer Waffenhilfe erobert. Die Angaben der Opferzahlen schwanken zwischen 25.000 und 50.000, über eine Million Aserbaidschaner wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land. In diesem Konflikt fühlt sich Aserbaidschan vom Westen, der lieber Armenien den Rücken stärke, im Stich gelassen. Klassisch eben: Christen gegen Muslime, so sieht das aus der Perspektive Bakus aus. Dabei sei es doch ausgerechnet das christliche Armenien, das sich selbst als "Vorposten Russlands" bezeichne und das - ungeachtet aller internationalen Sanktionen - mit jenem Iran kooperiere, dessen islamistisches Regime auf eine Atombombe hinarbeite.

Überhaupt stellt sich der Blick auf die Welt aus aserbaidschanischer Sicht einigermaßen anders dar. Zwar betont man die - mit Ausnahme Armeniens - guten Beziehungen zu allen Nachbarstaaten, doch tatsächlich fühlt sich das nach Fläche und Bevölkerungszahl mit Österreich vergleichbare Land eingezwängt zwischen dem russischen Riesen im Norden und der regionalen Großmacht Iran im Süden, wo zwischen 20 und 30 Millionen ethnische Aserbaidschaner leben. An einem Aserbaidschan mit eigenständigem außenpolitischen und energiepolitischen Kurs hat, das ist hier die historische Erfahrung, keiner der beiden übermächtigen Nachbarn ein Interesse. Entsprechend dieser Gefahrenanalyse wächst auch der Militärhaushalt exorbitant, vor allem mit Israel steht man diesbezüglich in guten Kontakten. Ein Krieg ist ständig reale Gefahr im Kaukasus. Trotzdem, und nicht nur, weil sich hier seit der Antike die Handelswege kreuzten, will das Land Mittler zwischen Europa und Asien sein.

Aber Baku steht sich auch selbst im Wege, es sind nicht nur die Intrigen der bösen Nachbarn. Zwar blüht das Leben in der Metropole, feiern die Menschen unbeschwert bis weit nach Mitternacht, nutzen 60 Prozent der neun Millionen Einwohner das frei empfangbare Internet und verfügen rund 800.000 über einen Facebook-Account; und dennoch reißen die Meldungen nicht ab, die über inhaftierte Oppositionelle und kritische Journalisten berichten.

Erst diese Woche verhinderte die Polizei eine, wenngleich unangemeldete, Demonstration gegen das autoritäre Regime von Präsident Ilham Aliyev; zwölf Gefangene sind in den Hungerstreik getreten, um ihre Freilassung zu fordern. Laut Human Rights Watch sitzen rund 70 Personen wegen politischer Gründe in den Gefängnissen. "Sing for Democracy" nennt sich dementsprechend eine Veranstaltung in Baku, organisiert von Menschenrechtsgruppen, die verhindern will, dass das Regime den Song Contest als Bühne benutzt.

Wenn man Regierungsvertreter darauf anspricht, wird die Kritik beiseite gewischt. Kein Bürger sei aufgrund seines politischen Engagements hinter Gittern, die meisten Oppositionellen seien lediglich verlängerter Arm Russlands oder Irans, mit dem Ziel, das Land zu destabilisieren . . . Dass Europa und seine Medien auf Journalisten in Haft höchst sensibel reagieren, will man hier nicht wahrhaben. Stattdessen fühlt man sich missverstanden, unfair behandelt und ganz generell als Opfer fremder Mächte, mögen diese nun Russland, Iran oder Armeniens Diaspora heißen.

Offen eingestanden wird lediglich, dass die grassierende Korruption, der Filz zwischen Politik und Wirtschaft, ein veritables nationales Problem darstellt. Davon allerdings, dass sich diese unselige Allianz bis in die höchsten Kreise, bis in die Familie des Präsidenten hineinzieht, will man dann schon wieder nichts mehr wissen. Wie aber soll in einem Land, in dem fast alles und jedes einzig und allein vom Präsidenten entschieden wird, ausgerechnet die oberste Ebene davon ausgenommen sein?

Überhaupt die Familie Aliyev. Der Sohn, Ilham, folgte seinem Vater Haydar 2003 auf den Präsidententhron. Bilder der beiden finden sich in Baku an jeder Straßenecke, in jedem Lokal, in jedem Geschäft. Vor allem der Vater wird auf eine für westliche Besucher fast absurde Weise verehrt. Dagegen, aber auch wirklich nur dagegen, nimmt sich die Selbstinszenierung Ilhams fast schon dezent aus. Omnipräsent ist er trotzdem, ob als geknüpftes Teppich-Porträt in Uniform, als gütiger Landeschef, dem die Jugend huldigt, oder als Staatsmann mit internationaler Prominenz.

Wenn man kluge Leute darauf anspricht und um Erklärungen bittet, verweisen sie auf die enormen Verdienste Haydars für die Wiederauferstehung des Landes nach 1991, auf die Notwendigkeit einer starken Führung in politisch schwierigen Zeiten und auf die lange Tradition des Personenkults, wie aus der byzantinischen, persischen und osmanischen Geschichte in dieser Region. Und, so hört man dann weiter, mit einer nach westlichen Vorgaben funktionierenden Demokratie hätte Aserbaidschan als unabhängiger Staat das Chaos im Zuge der Auflösung der UdSSR wohl kaum überlebt. Möglich, vielleicht sogar ziemlich wahrscheinlich. Ebenso ist allerdings wahr, dass heute der Fortbestand der autoritären Strukturen dem Land mehr schaden als nutzen. Vor allem auf dem Weg zu seinem großen Ziel, endlich Teil Europas zu werden.

Und trotzdem bewegt sich viel in dem Land, in dem 1848 die industrielle Erdölproduktion seine Premiere fand. Die Wirtschaftsleistung hat sich in den letzten acht Jahren verdreifacht, die durchschnittlichen Einkommen verfünffacht; die Milliarden aus dem Ölgeschäft fließen teils in einen Fonds, der Aserbaidschan auf die Zeit danach vorbereiten will. Landwirtschaft, Tourismus, Handel und Kommunikationstechnologien sollen das Land unabhängiger von seinem Rohstoffreichtum machen. Und Investitionen in die Infrastruktur sollen dafür sorgen, dass dieser Reichtum auch sicher exportiert werden kann.

Außerdem: Im Rahmen eines eigenen Programms erhalten 5000 Studenten ein Stipendium an 500 Universitäten - von Harvard über Tokio bis Wien. Dieser Staatsfonds verwaltet derzeit 34 Milliarden US-Dollar, in den nächsten 15 Jahren kommen - nach konservativen Schätzungen - weitere 200 Milliarden hinzu.

An Geld also mangelt es nicht. Nur am Image. Und nach dem Song Contest wartet bereits die nächste Bewährungsprobe: Das Land will die Olympischen Sommerspiele 2020 ausrichten. Eine erste Ausscheidungsrunde findet Ende Mai statt.