Drei Menschen spiegeln die Heterogenität des Protestes wider.
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Istanbul. Bankangestellte und Kellner, Künstler und Ingenieure, Studenten und Kopftuch tragende Hausfrauen - es ist eine bunte und überaus heterogene Menge, die auf dem Istanbuler Taksim-Platz und anderen türkischen Großstädten gegen die zunehmend als autoritär empfundene Politik von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan protestiert.
So verschieden wie die Demonstranten sind teilweise auch ihre Ansichten und Ziele. Vieles ist im Fluss und immer wieder tauchen auch Widersprüche auf. Die Protestbewegung gibt es also hier nicht, aber es gibt Menschen, die sich durch das Unbehagen gegenüber den Mächtigen auf einmal geeint fühlen. Eine Annäherung an die Protagonisten des Taksim-Platzes.
Iris Zeynep Anliatamer, 26, Theaterwissenschafterin
Wenn in der Türkei über die Proteste am Taksim-Platz gesprochen wird, ist immer wieder auch davon die Rede, dass die meisten jungen Demonstranten sich nicht in das klassische Parteienspektrum einordnen lassen beziehungsweise dass viele von ihnen sich bisher wenig bis überhaupt nicht für Politik interessiert haben. Auch auf Iris passt diese Beschreibung. Sie ist unfreiwillig Zeugin der ersten Ausschreitungen geworden, als sie sich von einer Magenoperation noch geschwächt auf den Weg zum Gezi-Park machte. "Plötzlich war überall Gas, die Ausgänge der Metrostation waren gesperrt und wir waren gefangen. Ich sah Menschen zusammenbrechen und wurde selber ohnmächtig. Da erlebte ich zum ersten Mal, wie die Bürger Kritik gegen die Polizei äußerten", sagt Iris.
Neben der Polizeigewalt stört die junge Frau auch die Ausdrucksweise des Premiers, sie scheut auch nicht vor einem drastischen Vergleich zurück: "Erdogan weiß, wie man die Menschen um den Finger wickelt. Doch auch Hitler war sehr beliebt bei seinem Volk. Den Rest der Geschichte kennen wir ja."
Iris, die tiefgläubige Verwandte hat, ist außerdem überzeugt davon, dass sich religiöse Gruppen durch den konservativen Kurs Erdogans darin bestärkt fühlen, jene Türken zu kritisieren, die einen liberalen Lebensstil pflegen. "Als Frau hat man es schon schwer genug. Jetzt sollen wir auch noch drei Kinder gebären und selbst bei Vergewaltigung nicht abtreiben dürfen. Erdogan erprobt immer wieder, wie weit er gehen kann", ist die junge Frau überzeugt. "Ständig wird uns gesagt, was wir tun und lassen sollen, ob wir uns küssen dürfen oder wie wir uns zu kleiden haben. Dem Volk reicht es. Es will keine Bevormundung!"
Fadi Akbas, 24, Musiker
Fadi Akbas gehört zu den Demonstranten der ersten Stunden, in denen es ‚nur‘ um den Erhalt des Gezi-Parks ging und als die Entwicklungen der vergangenen Tage noch nicht auszudenken waren. Der 24-Jährige hielt Wache, um die Abholzung des Parks zu verhindern, bis die Polizei kam und die Besetzung gewaltsam räumte.
"Unsere Zelte wurden verbrannt und man hat uns wie Terroristen behandelt. Über die sozialen Netzwerke haben wir die Videos darüber verbreitet. Was danach kam, hätten wir uns nicht erträumen lassen", sagt Fadi, der immer noch im Bann der letzten Tage steht. Er ist überzeugt, dass die diktatorische Art des Premiers viele zur Weißglut bringt: "Anstatt uns als ‚Plünderer‘ zu beleidigen, hätte er ein Referendum abhalten können. Das Areal gehört dem Volk einer demokratischen Republik, also hätte er nach unserer Meinung fragen müssen."
Fadi ist vor allem von der Hilfsbereitschaft der Menschen tief gerührt: "Während wir die Verletzten, die Opfer von Polizeigewalt geworden sind, betreuten, wurden wir von überall mit Essen und Medikamenten versorgt. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas möglich wäre. Das Volk kann viel bewirken, wenn es nur zusammenhält."
Marianna Matteucci, 23, Studentin und DJane
Nachdem die Italienerin Marianna Matteucci Istanbul besucht hatte, wusste sie, dass sie bleiben wollte. Die Stadt am Bosporus wurde zu ihrer Wahlheimat. Zusammen mit ihrer Freundin und deren Mutter wohnt sie im beschaulichen Stadtteil Cihangir, gleich neben der italienischen Botschaft.
Der Politikwissenschaftsabsolventin war die türkische Politik nicht fremd, doch auf viele Dinge wurde sie erst durch die Proteste aufmerksam. "Die Leidenschaft, mit der sich das türkische Volk für seine Rechte einsetzt, hat mich fasziniert. Es ist nicht möglich, unbeteiligt zu bleiben. Ich bin Demokratin aus tiefstem Herzen und setze mich deshalb auch für die Freiheit meiner Freunde ein", sagt die 24-Jährige.
Während die italienische Botschaft am 2. Juni in Cihangir den italienischen Nationalfeiertag feierte, hätten ihre Freunde sich auf den Straßen gegen das gewaltsame Vorgehen der Polizei gewehrt. "Das hat mich tief bewegt", sagt Marianna, während sie Fotos zeigt, auf denen sie mit Gasmaske inmitten der Tränengas-Schwaden zu sehen ist.