Zum Hauptinhalt springen

Die gespaltene Gesellschaft

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. Foto: Daniel Novotny

Eine Talking Cure für das Land.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Diesen Samstag findet hierzulande das statt, was in etlichen anderen Ländern schon oder noch stattfinden wird: "My country talks". Es ist dies eine internationale Initiative, die Menschen mit gegensätzlichen Meinungen zu gegenwärtigen Problemen, Menschen mit einem unversöhnlichen Blick auf die Gesellschaft zu einem Gespräch zusammenbringt. Die Auswahl der Paare erfolgt durch einen Algorithmus, der diesmal nicht die eigene Meinung als Echo zurückwirft, sondern vielmehr wie eine umgekehrte Partnerbörse funktioniert: Er wählt jeweils zwei Unvereinbarkeiten aus.

Woher rührt dieses Bedürfnis, Andersgesinnte zusammenzubringen? Vielleicht ist es ja auch schon mehr als ein Bedürfnis - eher eine Notwendigkeit. Denn die Risse, die durch die Gesellschaft gehen, scheinen sich immer mehr in Gräben zu verwandeln. Ein Ton der Unversöhnlichkeit hat Einzug gehalten - ins Öffentliche und oftmals auch in private Gespräche. Bedroht das die Gesellschaft?

Nicht zwangsläufig.

Demokratie ist jene Gesellschaftsform, die den Konflikt gewissermaßen institutionalisiert hat. Das bedeutet, dass in der Demokratie gerade der Konflikt das ist, was uns verbindet. Demokratische Gesellschaften werden demnach nicht durch soziale Harmonie zusammengehalten - sondern durch die Art ihres Streitens.

Voraussetzung dafür, dass es der Streit ist, der uns verbindet (und nicht eine unerreichbare Eintracht), ist aber, diesen Streit zu "zivilisieren". Das heißt, ihn zu verändern: aus einem unlösbaren Widerspruch, wo sich Feinde gegenüberstehen, in einen "gehegten Konflikt", wo Gegner aufeinandertreffen. Der Unterschied zwischen Feindschaft und Gegnerschaft liegt darin, ob man die gemeinsame Grundlage akzeptiert - ob also die Gesellschaftsordnung ebenso wie der Kontrahent grundsätzlich anerkannt wird. Oder eben nicht. Eben deshalb können solcherart gehegte Konflikte nicht ins Bodenlose kippen, weil die Gegner bei allen Differenzen zumindest auf einem gemeinsamen Boden stehen.

Das Problem heute scheint zu sein, dass wir uns dieses geteilten Bodens nicht mehr sicher sein können. Nicht zuletzt deshalb, weil die Großparteien als Weltanschauungslager nicht mehr garantieren können, "in ihren durchgefochtenen politischen Konflikten" das Bewusstsein eines gemeinsam geteilten Raums herauszubilden, wie Helmut Dubiel das genannt hat. Die Konflikte und Differenzen wurden sozusagen privatisiert. Eine Tendenz, die durch die Internet-Kommunikation noch weiter befördert wird.

Was hilft dagegen? Analoges Reden? Im Film "Waldheims Walzer" sieht man, wie in der damaligen Auseinandersetzung Leute einander ihren Hass unverhohlen ins Gesicht geschrien haben - ganz analog mitten auf dem Stephansplatz. Das ist in Bezug auf die kathartische Wirkung des Gesprächs nicht wirklich überzeugend. Diese Szenen zeigen aber auch: Ende der 1980er Jahre ist es hierzulande keineswegs einträchtiger zugegangen als heute. Und sie rufen eine psychoanalytische Erkenntnis in Erinnerung: Das Ausagieren von Emotionen mag heilsam sein - aber es bedarf einer Moderation. Wir brauchen eine Talking Cure für das Land. Bevor wir den gemeinsamen Boden unter den Füßen verlieren.