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Die gespenstische Renaissance der Ismen

Von Thomas Seifert

Politik
Joseph Nye im blauen Salon des Hotel Sacher in Wien.
© Stanislav Jenis

US-Politikwissenschafter Joseph Nye über die Analogie zum Dreißigjährigen Krieg im Nahen Osten, Trump und Brexit.


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"Wiener Zeitung": Der Niedergang des Westens ist ein Thema, das nicht zuletzt seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten leidenschaftlich diskutiert wird. Zuletzt erschien das großartige Buch des "Financial Times"-Korrespondenten Edward Luce: "The Retreat of Western Liberalism". Was halten Sie von diesen Debatten?

Joseph Nye: Ich glaube nicht an den Niedergang des Westens. Dieses Thema wird seit Oswald Spengler Buch "Der Untergang des Abendlandes", das 1922 erschienen ist, immer wieder aufgewärmt. Doch das Abendland steht immer noch und den Westen wird es wohl auch noch eine Weile geben. Jemand hat einmal gesagt: "Prognosen sind eine schwierige Sache. Vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen." Ein treffliches Zitat, das ich nur unterschreiben kann. Die britischen Eliten fielen nach dem Verlust ihrer Kolonien in Nordamerika in tiefe Depression, man sagte, die Britischen Inseln würden nun so bedeutungslos wie Sardinien werden. Aber kurz danach nahm die Industrielle Revolution ihren Ausgang von Großbritannien und das Empire erlebte seine glorreichste Zeit. Ich beteilige mich daher nicht an dieses Niedergangsgerede. Denken Sie allein an die unglaublichen Stärken der USA: Bevölkerungsdynamik, Innovationskraft, Bildungsniveau - das sind alles Indikatoren für gute Zukunftsaussichten für die Vereinigten Staaten.

Eine Krise des Westens ist aber unleugbar. Und diese Krise des Westens tritt in besonderer Weise in der angelsächsischen Welt zutage: Denken Sie an Donald Trump, denken Sie an den Brexit.

Nationalismus, Populismus, Protektionismus - eine ganze Reihe von Ismen erleben eine gespenstische Renaissance. Aber man sollte nicht vergessen, dass Donald Trumps Sieg nicht von einer Mehrheit der Stimmen getragen wurde - Hillary Clinton erhielt um drei Millionen Stimmen mehr als Donald Trump. Hätten nur 77.000 Wählerinnen und Wähler im Mittleren Westen für Clinton und nicht für Trump gestimmt, dann sähe die Sache heute anders aus. Zudem: Der demografische Trend spricht gegen Trump - junge Amerikaner haben überwiegend für Clinton gestimmt. Beim Brexit ergibt sich ein ähnliches Bild: In Großbritannien haben junge Menschen mit überwältigender Mehrheit pro Europa votiert. Ich denke, die Korrektur ist bereits im vollen Gange: Die jüngsten Wahlen in Großbritannien werden Theresa May eher in Richtung eines soften Brexit bringen. Man sollte nicht vergessen, hinzuzufügen, dass nicht alle Länder der angelsächsischen Welt Problemkinder sind. . .

Denken Sie etwa an Kanada?

Absolut. Justin Trudeau wird als Hoffnungsträger gehandelt. Aber im Grunde ist schon etwas Wahres dran: Die angelsächsische Welt erlebt eine sehr schwierige Periode. Ich glaube aber nicht, dass es sich um einen terminalen, unabwendbaren Niedergang des Westens oder der angelsächsischen Welt handelt.

Wie geht es mit US-Präsidenten Donald Trump weiter? Glauben Sie, dass es zu einem Impeachment kommt?

Nein, das glaube ich nicht. Dazu bräuchte es eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Senat, wo aber die Republikaner die Mehrheit haben. Ich halte es aber für denkbar, dass Trump aus Frustration von sich aus das Handtuch wirft und zurücktritt. Ich darf in Erinnerung rufen, dass auch Nixon im Zuge des Watergate-Skandals mit Impeachment bedroht wurde und - um dem zuvorzukommen - von sich aus zurücktrat.

Wäre es angesichts der jüngsten Enthüllungen aber nicht die Pflicht der Senatoren, ein Impeachment-Verfahren anzustrengen?

Dazu wird es kommen, wenn die öffentliche Meinung zum Urteil gelangt, dass Trump sich schwerer Vergehen schuldig gemacht hat. Wenn das geschieht, werden sich viele republikanische Senatoren gegen ihn wenden, genauso wie sich 1974 Richard Nixons Parteifreunde gegen ihn gewandt haben.

Kann es vielleicht sein, dass das Zweiparteiensystem der USA dazu führt, dass das Land in dieser schweren politischen Krise steckt? Dass es einfach zu wenige Alternativen für das Wahlvolk gibt?

Was man sagen kann, ist, dass Hillary Clinton keine beliebte Kandidatin war - auch, wenn ich persönlich sie sehr schätze. Und Donald Trump ist für alle, die ihn nicht gewählt haben, ein rotes Tuch. Kandidaten von dritten Parteien hatten aber in der Vergangenheit nie besonders viel Erfolg. Ross Perots überraschend gutes Abschneiden hat bei den Präsidentschaftswahlen 1992 dazu beigetragen, dass Bill Clinton die Wahl gewinnen konnte.

Welches geopolitische Problem bereitet Ihnen eigentlich schlaflose Nächte?

Längerfristig ist wohl der Klimawandel Grund zu höchster Sorge. Wiewohl es da Anlass zur Hoffnung gibt, dass wir das Problem mit technologischen Mitteln in den Griff kriegen können. Unmittelbar ist die größte Gefahr, dass Terrorgruppen wie der Islamische Staat oder eine Nachfolgeorganisation eines Tages Zugang zu nuklearem Material bekommt. Ein Anschlag mit einer Mini-Atombombe würde nicht nur eine große Zahl von Todesopfern fordern, sondern wohl auch dazu führen, dass es zu einer Überreaktion der öffentlichen Meinung und zu einer drastischen Einschränkung bei den Bürgerrechten kommt.

Droht von Nordkorea Gefahr?

Ein Krieg auf der koreanischen Halbinsel wäre extrem folgenreich. Ich glaube dennoch nicht, dass die Wahrscheinlichkeit dafür besonders groß ist.

Der Nahe Osten liefert aber ausreichend Grund zur Besorgnis.

Das ist richtig. Aber es sollte uns bewusst sein, dass die USA diese Probleme nicht lösen können. Die Situation im Nahen Osten erinnert an den Dreißigjährigen Krieg, es gibt da eine ganze Reihe von simultan ablaufenden Revolutionen: Die Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten, die eingefrorene Modernisierung, der Kollaps der Nationen-Ordnung, so wie sie im Sykes-Picot-Abkommen von 1916 festgeschrieben wurde. Die Folge davon ist Chaos - und das wird wohl auch eine Weile so weitergehen.

Wenn Sie sich die Lage der Welt vor Augen führen, wie viele Minuten vor zwölf ist es?

Ich denke, fünf Minuten vor zwölf - auf der Position standen die Zeiger auch während der Zeit des Kalten Krieges.

Joseph Nye ist ein sehr einflussreicher US-Politikwissenschafter. Er war auf Einladung der Forschungsgruppe Polemologie und Rechtsethik der
Universität Wien in Kooperation mit der Direktion für Sicherheitspolitik des Verteidigungsministeriums in Wien zu Gast.