Ägypten hat sich seit der Revolution 2011 stark verändert - nicht zum Guten, sagen viele. Die Hoffnung ist verflogen.
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Alexandria. "Es ist schon das zweite Mal heute. Wie oft noch? Lasst uns doch endlich leben!" Der Verkäufer, klein, graue Haare, weite Hose, weißes Hemd, ist verärgert. Es ist dunkel, plötzlich sind alle Lichter im kleinen Supermarkt ausgegangen. Stockfinster, die ganze Straße. Die Menschen im Laden holen ihre Handys raus. Man sieht trotzdem fast nichts. Ein Mann will dennoch seine Einkäufe machen, legt sie auf die Theke und drückt dem Verkäufer zwanzig Pfund in die Hand. Auf der hölzernen Theke klebt ein Porträtbild des Präsidenten, General Abd al-Fattah al-Sisi.
Wir sind in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria, wo alles begonnen hat. Khaled Said, das Gesicht der ägyptischen Revolte, war hier zu Hause. Hier fand der Anfang vom Ende des Mubarak-Regimes statt. Said war die Symbolfigur der Protestwelle 2011. Der 28-Jährige wurde auf offener Straße von Sicherheitskräften zu Tode gefoltert. Mit ihm solidarisieren sich vor allem junge Ägypter: ausgebildet, jung, arbeits- und perspektivenlos. Auf Facebook starteten sie die Seite "Wir sind alle Khaled Said" und riefen am 25. Jänner des Jahres 2011, dem Feiertag der Polizei, zu Massenprotesten in Kairo auf. Sie hofften auf Wandel. Viele verloren im Laufe der Demonstrationen ihr Leben, ihre Familienmitglieder oder ihre Freunde.
Alexandria, nachts am Kornishe, einer Uferpromenade entlang der Küste: Massen von Menschen spazieren. Freunde, Familien, Kinder, aber auch Verkäufer. Kaktusfeigen werden auf rollenden Wägen geschält und verkauft, eingelegte "Termes" (Wolfsbohnen) mit Zitronensaft und Chili zum Knabbern angeboten. Ein kleiner Junge in Jeans und T-Shirt geht mit seinem Wagen und ruft: "Gelati, Gelati!"
Die Zeit, in der die meisten Ägypter gefastet haben, der Ramadan, ist vorbei. Die Wochen danach sind die perfekte Zeit für den "Masyaf", wie Ägypter den Urlaub am Meer nennen. Aber auch nach dem Sommerurlaub kommen die Menschen aus Kairo und Umgebung gerne hierher, um ein wenig Abwechslung und die Meeresfrische zu verspüren. Wie jetzt kurz vor dem Opferfest, bei dem Muslime des Propheten Abraham gedenken. Ein älterer Herr in einem langen, dunkelgrauen Gewand und einem weißen Schal um sein Haupt spielt Pfeife. Wenige Meter dahinter schreit ein junges Mädchen: "Zuckerwatte!" Er hört ihren Ruf und bleibt stehen. Die junge Frau ist mit ihren Freundinnen unterwegs. Sie lässt ihre Begleiter stehen, eilt zum Zuckerwatte-Verkäufer und bittet ihn um zwei Säckchen. Die Zuckerwatte, rosa- und weißfarben, ist in kleinen Jausensäckchen verpackt. Drin ist auch ein kleines Bild. "Warte, ich gebe dir eines mit dem Sisi-Foto", sagt der Herr beifällig. "Gib mir lieber ein anderes", sagt das Mädchen auffordernd. Der bisher nett dreinblickende Mann gibt ihr mit mürrischer Miene ein Säcken nach dem anderen, ohne Sisi-Bild, sie drückt ihm die Münzen in die Hand und geht.
Die Uferpromenade - eigentlich nur ein breiter Gehsteig - ist lang, auf der einen Seite das Meer und auf der anderen Autos ohne Ende. Es herrscht ein Durcheinander, ständig wird gehupt. Ein kleiner Steg trennt die Autos beider Richtungen. Ampeln gibt es keine. Viele Ägypter nehmen dennoch die Gefahr auf sich und rennen auf die gegenüberliegende Seite. Ein Mann sitzt am Moped, ein etwa fünfjähriges Mädchen auf seinem Schoß, hinter ihm seine Frau und dazwischen noch der Sohn. Man könnte glauben, sie fallen jeden Moment um. Sie aber hören laute Musik und schauen in die Luft.
Soziale Tristesse
Es ist nachts. Aus einem Mercedes, in dem lauter Frauen sitzen, ertönt ebenso laute Musik. Sie klatschen und singen mit. Es ist eine freudige Atmosphäre. Im Auto daneben sitzt ein Mann alleine und zieht an seiner Wasserpfeife. Die einzige Ampel entlang des Kornishes führt zum "Four Seasons Hotel" und dem Einkaufszentrum "San Stefano". Unten befindet sich ein Food Corner. Will man da hinein, muss man durch eine Sicherheitsschranke. Nicht in jede Tasche wird hineingeschaut. "Shawerma Suri" nennt sich eines der Restaurants hier. Das Geschäft gehört zwei syrischen Brüdern, die geflüchtet sind und sich in Ägypten ein Leben aufgebaut haben. Die Reihen sind lang, am meisten bei "McDonalds" und "Kentucky". Alle Tische sind besetzt. Drei Männer in hellblauem Hemd und dunkelblauer Hose sorgen für Ordnung. Sie sortieren den Müll und schauen, ob noch Essbares dabei ist. Die meisten Menschen hier sind reich. Ein Menü bei McDonalds kann sich nicht jeder Ägypter leisten. Beim Ausgang des Shopping-Centers liegen vereinzelt Straßenkinder am Boden. Auf Kartons zusammengeknäuelt. Nicht weit entfernt sitzen mehrere Jugendliche, die drinnen keinen Platz gefunden haben, verspeisen ihre Burger, um sich viele Einkaufstaschen.
Etwas mehr als drei Jahre ist her, dass die ägyptische Revolution begann. Als das Volk Langzeitdiktator Hosni Mubarak stürzte und sich für Demokratie entschied, waren die Ägypter eins. Alle wollten Veränderung. Heute zieht sich eine tiefe Spaltung durch die Gesellschaft. Eine soziale Schieflage, verursacht durch jahrzehntelange Misswirtschaft und Korruption, prägt das Land. Die soziale Kluft zwischen Arm und Reich ist sichtbarer denn je. Euphorie, Mut und Hoffnung prägten 2011. 2014 erinnern nur mehr Klingeltöne der Mobiltelefone an diese Begeisterung, die aus den Jugendlichen sprudelte, die alles besser machen wollten. Heute herrscht nur mehr Resignation und Enttäuschung.
Kritik ist unerwünscht
Die ersten demokratischen Wahlen gewann 2012 der Muslimbruder Mohamad Mursi. Nach einem Jahr wurde er, der erste regierende Zivilist in Ägyptens moderner Geschichte, vom Militär gestürzt. Die Proteste seiner Anhänger und der Gegner des Militärputsches wurden im Sommer 2013 gewaltsam niedergeschlagen. Dabei wurden nach Angaben von Human Rights Watch über 1000 Menschen getötet, weitere Tausende verletzt. Angehörige und Sympathisanten der Mursi-Regierung und auch linke Aktivisten wurden inhaftiert. Im Mai dieses Jahres setzte die Armee unter Abd al-Fattah al-Sisi neue Wahlen an. Das Klima der Unterdrückung hätte in Ägypten "eine wirklich demokratische Präsidentschaftswahl unmöglich gemacht", so ein Wahlbeobachter von Democracy International. Politische Ausgrenzung und Einschüchterung waren schon zu Mubaraks Zeiten ein Instrument der Machterhaltung. Jede Art von Widerstand wird im Keim erstickt. Keine Straßenmalerei, keine Kritik, keine Kreativität ist zuglassen.
Alexandria 2014. Auf einer Mauer ist Khaled Said großflächig gezeichnet. Mit Flügeln, die seine Unschuld demonstrieren sollen. Am nächsten Tag sind die Flügel weiß bemalt, Saids Sweater ist grau, seine Augen schwarz, der Hintergrund hellblau wie der Himmel. Über Nacht wurde über die Zeichnung drübergestrichen. Als wäre sie nie gewesen. Ein Sinnbild der verlorenen Revolution, die Tausende das Leben kostete, Schmerz und Leid zufügte. "Wir sind da zurück, wo wir begonnen haben. Alles war umsonst": Ahmed ist dreißig. Er hat Wirtschaft studiert, fährt das Taxi seines Onkels. Hauptkritikpunkte der Protestierenden waren die Polizeigewalt und die soziale Ungleichheit. Nichts habe sich geändert, sagt er. Vor einem Monat chauffierte er einen Polizisten, als er ausstieg, wollte er unbedingt Ahmeds Führerschein sehen. "Er wollte einfach seine Macht demonstrieren", erinnert sich Ahmed verbittert. Zuerst habe ihn der Polizist angezeigt wegen eines Verkehrsverstoßes, dann behauptete er, würde ohne Führerschein fahren. 500 Pfund sollte Ahmed als Strafe zahlen. Aber er hat sich geweigert, nicht nur weil er das Geld gar nicht hat, sondern aus Prinzip. "Solange es diese Ungerechtigkeiten und diese Willkür gibt, wird es keine Ruhe geben", sagt der Taxilenker. Eine größere Revolution werde losgehen, weil "uns zu viel Unrecht angetan wird. Immer noch."
Gespaltene Gesellschaft
Als Menschen 2011 auf den Kairoer Tahrir-Platz gingen, träumten sie von einem besseren Ägypten. Ein Ägypten "in dem unsere Meinung gehört wird, in dem wir Perspektiven haben", sagt Manal, Pharmaziestudentin, Mitte zwanzig. Sie war bei den Aufständen dabei. Jetzt hat sie keinen Glauben an eine positive Entwicklung mehr.
"Eine Feindschaft hat sich zwischen uns gebildet. Jeder will jeden kategorisieren: Bist du Mursi oder Sisi?" Das Volk sei zerrissen. Für sie sei das Schlimmste. Sie unterstütze Präsident Sisi nicht, weil das Militär das Land und die Menschen seit Jahrzehnten ausbeute und nichts weiterbringen werde. Entmutigung und Verzweiflung macht sich auf ihrem Gesicht breit. "In jeder Familie ist jemand gestorben, jemand inhaftiert worden oder man ist zerstritten, weil der auf Seite der Armee ist und der andere nicht." Soliman, ein 40-jähriger Händler, sieht das anders. Sisi sei genau der Richtige für Ägypten. Das ägyptische Volk brauche eine starke Hand, mit Demokratie habe das Land ohnehin keine Erfahrung, sagt Soliman, der sich selbst als Demokrat definiert. Al-Sisis Prestigeprojekt, den Suezkanal binnen eines Jahres auszubauen, erweckt in vielen Ägyptern Optimismus. Einige Menschen investieren selbst in das Vorhaben, indem sie Aktien kaufen. "Es gibt zwar dauernd Stromausfälle und viele Probleme, sagt Soliman, aber Sisi wird das schon lösen. Wir müssen ihm nur Zeit lassen." Vor den Vereinten Nationen sprach al-Sisi am Mittwoch von Rechten und Freiheiten, Fremdwörter für Ahmed, den Taxilenker. Al-Sisi wolle an einem Ägypten arbeiten, in dem das Miteinander der Zivilisten ohne Exklusion und Diskriminierung möglich ist. Von der Realität scheint das weit entfernt zu sein.
Stimmen des Schweigens
Cairokee, eine Band, die die Revolution von Anfang an mit ihren Liedern prägte, sang vor einigen Jahren auf dem Kairoer Tahrirplatz, dem Ort der Revolution. Die Musik war lebendig, die Clips farbig und ungetrübt. "Eine Hand. Nichts kann uns aufhalten. Die Stimme der Freiheit eint uns," heißt es in einem der Songs. Im letzten Album singt Amir Eid von Cairokee resigniert: "Die Mehrheit war immer schweigsam. Ich gehöre nicht zu ihnen."
Die Studentin Manal will unbedingt ins Ausland gehen. Sie will nicht dazugehören, zu einem Regime, das die Menschen für dumm verkauft. Jeder wolle dazugehören und nicht auffallen, um zu leben. Niemand traue sich, anderer Meinung zu sein. "Nicht alle, die Sisi-Bilder auf ihre Geschäfte hängen, unterstützen ihn. Sie haben nur Angst, man könne sagen, sie seien gegen Sisi." Zu jenen will sie nicht gehören.