Die Rechtspraxis der USA wurde auf den Kopf gestellt: Anwaltswerbung ist allgegenwärtig. Und bei Gruppenklagen suchen sich mittlerweile oft die Rechtsanwälte die Mandanten.
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In den Romanen von John Grisham und in den realen Heldentaten von Konsumentenanwälten wie Ralph Nader sind die Anwälte der klagenden Partei immer die Guten - Helden, die gegen die Habsucht der amerikanischen Wirtschaftswelt kämpfen. Aber dieses populäre Image wurde nun zerschmettert von zwei Fällen, die zeigen, dass man auch auf der Bank der Ankläger nicht unbedingt gegen die Gier und Gesetzlosigkeit gefeit ist, die man von dort aus bekämpft.
In diese Fälle sind zwei der prominentesten US-Anwälte für Guppenklagen verwickelt: Melvyn Weiss und Dickie Scruggs. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten Milliarden gegen Tabak- und Asbestfirmen gewonnen, gegen Energieversorger und andere angebliche Übeltäter des Wirtschaftslebens. Beide haben sich aber nun schuldig bekannt, das Rechtssystem kriminell missbraucht zu haben.
Was Weiss und Scruggs zu Fall gebracht hat, waren letztlich die gewaltigen finanziellen Dimensionen. Die beiden hatten geholfen, eine Industrie von Gruppenklagen größten Ausmaßes aufzubauen, bei denen es um so riesige Geldsummen ging, dass es sich die Kläger gar nicht mehr leisten konnten zu verlieren. So haben die "Good guys" eben begonnen, ein bisschen nachzuhelfen.
Seltsam an diesen Fällen ist: Keiner der beiden brauchte noch mehr Geld. Weiss besaß laut "Wall Street Journal" eine Villa auf Long Island, mit Picassos an den Wänden. Sein Anteil am Firmengewinn betrug in den vergangenen 25 Jahren mehr als 200 Millionen Dollar. Und Scruggs, der "Good ol´ boy", soll Milliardär gewesen sein, mit Privatjet.
"Das Geld wurde zur Droge", sagt John Epps, ein Rechtsanwalt von Hunton und Williams in Richmond, der Unternehmen in einigen Asbestfällen verteidigt hat: "Sie verdienten mehr Geld als jemals zuvor ein Rechtsanwalt verdient hat."
Die extrem hohen Beträge, die Weiss und Scruggs einheimsten, stammen von ihrer Technik, für ihre Klagen enorm große Gruppen von Klägern zusammenzubekommen. Das hat die bisherige Rechtspraxis der USA auf den Kopf gestellt.
Das alte System bezog sich auf Einzelkläger, die einen Anwalt engagierten. Rechtsanwälte in den USA haben es früher als unethisch betrachtet, sich ihren Klienten anzubieten. Bis 1977 galt ein striktes Werbeverbot.
Heute ist Anwaltswerbung allgegenwärtig. Und was die Gruppenklagen betrifft, so suchen sich mittlerweile oft die Rechtsanwälte die Mandanten, nicht umgekehrt. Manchmal geschieht das, um Zivilklage einzureichen gegen Unternehmen, die sich gerade in einem strafrechtlichen Verfahren schuldig bekannt haben. Im schlimmsten Fall kann diese Vorgehensweise legaler Erpressung sehr nahe kommen.
Die Art, wie sich das Rechtssystem veränderte, habe die Beziehung zwischen Anwalt und Klient zerstört, meint Jamie Gorelick, der früher in der Regierung von Bill Clinton stellvertretender Generalstaatsanwalt war: Die neuen Praktiken seien zum Teil auf Veränderungen der Regeln des Anwaltsberufes zurückzuführen.
Niemand, der sich an die primitiven Standards der Zeit vor Ralph Nader erinnert und an die arrogante Macht der Tabakkonzerne, wird sich ein System wünschen, in dem sich Konsumenten nicht gegen Missstände im Wirtschaftsleben wehren können. Aber die Fälle von Melvyn Weiss und Dickie Scruggs zeigen uns, dass in den Vereinigten Staaten auf der Klägerbank ernsthaft etwas nicht in Ordnung ist.
Übersetzung: Redaktion