Vor kurzer Zeit gab es in Finnland folgende Konstellation: Nicht nur Helsinki hatte eine Bürgermeisterin, auch die beiden anderen großen Städte des Südens, Espoo und Vantaa, wurden von Frauen | regiert. Die Parlamentspräsidentin hatte zwei weibliche Stellvertreterinnen und die großen Städte an der Westküste weibliche Vorsitzende im Gemeinderat. In der Regierung werden heute so wichtige | Ministerien wie das für auswärtige Angelegenheiten, Landesverteidigung oder Soziales von Frauen geleitet, und 22 Prozent der 1.752 evangelischen Pfarrer sind Frauen.
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Die "Emanzipation der Frau" ist daher in Finnland kein Diskussionsthema, sondern gelebte Wirklichkeit. Im folgenden Bericht soll den Gründen nachgegangen werden, warum sich die Frauen in
Finnland in den verschiedensten Lebensbereichen besser durchgesetzt haben als in anderen Ländern und welche Auswirkungen das auf die Arbeitswelt und die Familie hat.
In einem Land, in dem die Temperaturen nach einem langen Winter erst im Mai wieder über den Gefrierpunkt klettern und das zu einem Viertel über dem Polarkreis liegt, sind die Lebensbedingungen,
gerade in einer Agrargesellschaft, sehr hart. Die Arbeitskraft von Mann und Frau war daher immer in gleicher Weise gefordert. In Finnland, wo es nie ein Feudalsystem gegeben hat, konnte es sich der
freie Bauer wegen des harten Klimas nicht leisten, müßig zu sein. Seine und die Arbeitskraft der Frau waren in der Landwirtschaft eine existentielle Notwendigkeit. Der gemeinsame Einsatz gegen die
Kräfte der Natur bildete daher eine wesentliche Voraussetzung für die Bewertung der Frau in der Gesellschaft.
Dazu kam noch etwas: Im Laufe der Geschichte war Finnland oft Jahrzehnte hindurch in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt. In dieser Zeit waren es die Frauen, die alleine den Hof führen
mußten. Ähnlich wie in Österreich durch die beiden Weltkriege, als die Männer an der Front waren, wurde so die Integration der Frauen in den Arbeitsprozeß stark gefördert. Finnland machte diese
Erfahrung schon sehr früh in seiner Geschichte.
Jedenfalls wurden Frauen schon in der finnischen Volksdichtung als stark, unabhängig und aktiv beschrieben. Im "Kalevala", dem finnischen Nationalepos, stand das Nordland "Pohjola" unter der
Herrschaft einer mächtigen Frau. Zauberinnen und heilkundige Frauen waren wichtige Gestalten und Frauen hatten die Schlüsselgewalt über den Bereich des Hauses.
Daß die Religion die Rolle der Frau in einem entscheidenden Ausmaß bestimmt, zeigen heute wieder die islamischen Länder. Aber auch der Unterschied zwischen dem katholischen Süden und dem
protestantischen Norden Europas ist beträchtlich. Dabei hat sich Martin Luther nicht viel anders über die Frauen geäußert als manche katholischen Kirchenväter. Aber: Die Lutherische Kirche
hat es Analphabeten nicht erlaubt zu heiraten. Junge Burschen und Mädchen mußten daher in gleicher Weise lesen und schreiben lernen.
Immerhin war die finnische Kirche Staatskirche und die evangelisch-lutherische Religion Staatsreligion. Seit der Reformation 1527 fungierte die Kirche als integraler Bestandteil des Staatsapparates.
Nicht nur die Teilnahme am Gottesdienst war Bürgerpflicht, die Kirche führte die Schulen und schloß die Ehen. Die Tatsache, daß von kirchlicher Seite ein so großer Wert auf die Ausbildung aller
gelegt wurde, spielte daher eine große Rolle.
Erstes Frauenwahlrecht
in Europa
In Finnland wurde bereits 1906 das allgemeine aktive und passive Wahlrecht für Männer und Frauen eingeführt. Bereits 1907 wurden 19 Frauen in die Volksvertretung gewählt, ein Jahr später sogar 25
(bei 200 Sitzen). Heute sind 67, also 33,5 Prozent aller Abgeordneten Frauen.
Der erste Frauenverein wurde bereits 1835 in Viipuri (Karelien) gegründet, wobei vor allem soziale Aufgaben im Vordergrund standen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstand dann die eigentliche
Frauenbewegung, die nach Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen strebte.
Bereits 1864 erlangten alleinstehende Frauen die Volljährigkeit im Alter von 25 Jahren, 1878 wird der Frau eines Bauern die Hälfte des Ehevermögens und die Hälfte des Erbes zugebilligt, 1889 erhalten
verheiratete Frauen das Recht, unabhängig über ihr Einkommen zu verfügen, und das Ehegesetz von 1930 gewährte die rechtliche Gleichstellung der Ehegatten (während das österreichische ABGB noch eine
Generation später im § 91 festhielt: "Der Mann ist das Oberhaupt der Familie").
1963 wurde die Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) betreffend "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" beschlossen; 1970 wurde die Abtreibung auch bei sozialen Indikationen
legalisiert. Nach der Unterzeichnung der UNO-Konvention gegen die Diskriminierung von Frauen ist die Wahl des Familiennamens frei, das Gleichheitsgesetz von 1987 sieht vor, daß die
Gleichbehandlung von öffentlichen Stellen und Unternehmen aktiv betrieben werden muß. 1995 wurde dieses Gesetz dahingehend erweitert, daß in verschiedenen öffentlichen Gremien, vor allem auf
Gemeindeebene, der Frauenanteil mindestens 40 Prozent betragen muß. Auch der freiwillige Militärdienst für Frauen wurde eingeführt. Seit 10 Jahren können Frauen in der evangelisch-lutherischen Kirche
zu Priesterinnen geweiht werden.
Sexuelle Revolution
In den fünfziger und sechziger Jahren dieses Jahrhunderts kam es zu einer dreifachen Revolution, die die Situation der Frau entscheidend beeinflußte und deren Kern darin bestand, daß Sexualität
und Sünde von einander getrennt wurden: Das sexuelle Verhalten, bis dahin eine Frage der Religion und der Moral, letztlich unter Aufsicht der Kirche, wurde zunehmend einer individuellen,
säkularisierten Ethik überlassen. Waren bisher strenge Verhaltensregeln in der Kirche und im Religionsunterricht aufgestellt worden, so vermittelte nunmehr der Sexualkundeunterricht in der Schule
jene Werte, die eine tolerante Gesellschaft festlegte.
Schließlich wurde das "Recht auf Lust" proklamiert, das jedem zustünde, unabhängig davon, in welcher Form der Partnerschaft man lebt.
Diese Revolution hatte in Finnland nicht nur große Auswirkungen auf das persönliche Verhalten vieler (junger) Menschen, sondern beeinflußte auch die Arbeitswelt und die Familienstruktur.
Bildungsbereich
Der Zugang zu den höheren Schulen hatte auf dem Weg zur Gleichberechtigung eine große Rolle gespielt: 1870 kamen die ersten Frauen an die Universität, 1878 promovierte die erste Ärztin (heute sind
60 Prozent aller Ärzte Frauen). Ab 1882 können Frauen an Mädchenschulen unterrichten, ab 1916 auch an Universitäten.
Heute werden die finnischen Grundschulen von 590.000 Schülern besucht, davon 48,8 Prozent Mädchen. Von 110.000 Gymnasiasten sind 57 Prozent weiblich; von den 192.000 Berufsschülern 51,9 Prozent. Von
140.000 Studenten an den finnischen Universitäten sind 52,4 Prozent Frauen.
1994 waren 56 Prozent der Universitätsabsolventen Frauen, davon 77 Prozent in den Lehrberufen; 66 Prozent bei den Philosophen und Theologen, 35 Prozent im Bereich der Naturwissenschaft und
Mathematik, 65 Prozent bei den Medizinern und 55 Prozent an den Wirtschaftsuniversitäten. Allerdings waren nur 18 Prozent der Ingenieure Frauen. Es gibt aber Spezialprogramme, um an den Mittelschulen
Mädchen verstärkt für die technischen Berufe zu gewinnen.
b) Beruf und öffentliches Leben
Die verbesserte Ausbildung führte dazu, daß sich die Frauen im Beruf und im öffentlichen Leben besser und stärker etablieren konnten.
1995 gab es in Finnland 2,5 Millionen Arbeitnehmer, davon 47,5 Prozent, also fast die Hälfte, Frauen. Von den 430.000 Arbeitslosen waren 46,1 Prozent Frauen. 1,684.000 Frauen sind im Alter zwischen
15 und 64 Jahren. Von ihnen arbeiten 68,8 Prozent, also fast alle, die nicht in die Schule gehen oder schon in Pension sind.
Von den Bediensteten im öffentlichen Sektor sind zwei Drittel (67 Prozent) Frauen, im Bereich der Privatwirtschaft 39 Prozent. Die Mehrzahl der Frauen sind also im Dienstleistungs-, Pflege- und
Erziehungsbereich tätig.
Das Durchschnittseinkommen der Frauen beträgt 81,4 Prozent von dem der Männer. Während bei den Beziehern von 20.000 bis 30.000 Fmk Jahreseinkommen 60 Prozent Frauen sind, sind es bei den Einkommen
zwischen 150.000 und 200.000 Fmk nur 21,1 Prozent.
Die Familie
Diese massive Beteiligung der finnischen Frauen am Arbeitsleben, ihre finanzielle Selbständigkeit, aber auch die starke zeitliche Belastung konnten nicht ohne Auswirkungen auf die Familie bleiben.
Einerseits mußte eine neue Aufgabenteilung durchgeführt werden. Ein Teil der Kindererziehung wurde dem Staat übertragen. Die Familie hat nicht mehr die ausschließliche Verantwortung für das Kind,
(was im Fernsehzeitalter ohnehin nicht mehr möglich wäre). Ein Teil der Hausarbeit sollte der Partner übernehmen. Größere Selbständigkeit und größeres Selbstbewußtsein brachten aber auch eine größere
Freiheit bei der Entscheidung über die Form des Zusammenlebens mit sich.
In Finnland gibt es 1,4 Millionen-Familien, davon sind: 43 Prozent verheiratet mit Kindern; 28 Prozent verheiratet ohne Kinder; 10 Prozent unverheiratet ohne Kinder; 6 Prozent unverheiratet mit
Kindern; 11 Prozent sind alleinerziehende Mütter; 2 Prozent alleinerziehende Väter.
Die Zahl der Kinder pro Familie beträgt 1,79, 1960 waren es noch 2,27. Mit 1,81 hat Finnland die zweithöchste Geburtenrate in der EU (wo der Durchschnitt bei 1,44 liegt; in Österreich: 1,4). 1995
wurden 23.800 Ehen geschlossen und 14.200 geschieden. Die Scheidungsrate ist also mit 60 Prozent sehr hoch.
Unabhängig von diesen Zahlen läßt sich folgendes sagen: Die Frau wird in Finnland als gleichberechtigt akzeptiert, ebenfalls akzeptiert werden die verschiedenen Formen des Zusammenlebens. Als
Ministerpräsident Paavo Lipponen nach seiner Scheidung mit einer jungen Frau zusammenlebte, wurde die Ermahnung eines evangelischen Bischofs, er solle rasch heiraten, eher als bizarr empfunden. Da er
nun tatsächlich heiratet, ist das ein schönes Medienspektakel.
Die Betreuung der Kinder im Vorschulalter, entweder in öffentlichen Horten oder in Familien-Pflegeplätzen ist ein subjektives Recht, das stark in Anspruch genommen wird und zeugt auch vom Vertrauen,
das man offensichtlich in die Fähigkeiten der öffentlichen Hand setzt.
Trotz verstärkter Einbindung der Männer in die Hausarbeit ist aber die Doppelbelastung der Frau sehr groß: In Familien, wo das jüngste Kind unter 7 Jahren ist, leistet die Frau laut Statistik im
Durchschnitt täglich 6,3 Stunden Hausarbeit, der Mann 2,8 Stunden. 96 Prozent der Kleiderpflege, 83 Prozent des Kochens und 82 Prozent der Putzarbeiten werden von Frauen verrichtet, während die
Männer vor allem die Wartungsarbeiten bei Installationen und Fahrzeugen durchführen.
Die Gleichberechtigung der Frau ist also tief in der Entwicklung des Landes verankert und ist ein Charakteristikum der modernen finnischen Gesellschaft. Der Staat hat viel getan, um diese Entwicklung
bei der Erziehung und durch Sozialgesetze, vom Karenzurlaub bis zum Erziehungsurlaub, zu unterstützen. Im Familienbereich kam es, zumindest bis zu einem gewissen Grad, zu einer neuen Arbeitsteilung.
Allgemein kann man sagen, daß sich die Frauen im Bereich der Politik und der öffentlichen Verwaltung schon entscheidend durchgesetzt haben, vielleicht mehr, als in irgendeinem anderen Land der Welt.
Aber die Spitzenpositionen in der Wirtschaft sind noch weitgehend eine Domäne der Männer, auch wenn heute an der Spitze der Nationalbank eine Frau steht. Mit dem Staatspräsidenten und
Ministerpräsidenten sind auch die wichtigsten politischen Entscheidungsträger Männer. Auch das Militär, das in Finnland eine große Rolle spielt, ist eine männliche Domäne.
Auf den großen Beitrag der Frauen zu den kulturellen Leistungen des Landes wurde im Bericht "Finnland als Kulturnation" hingewiesen. Die Leistungen der finnischen Frauen in der Musik, in der
Architektur, im Design und in der Literatur sind beträchtlich. Erst unlängst wurde in Helsinki eine Ausstellung von 24 Künstlerinnen gezeigt, darunter Helene Schjerfbeck, Ina Colliander und Eila
Hiltunen, der Schöpferin des Sibelius-Denkmals.
(WIRD FORTGESETZT)
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Wendelin Ettmayer ist österreichischer Botschafter in Finnland.