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Die Globalisierungsgegner haben ihren ersten Märtyrer

Von Reinolf Reis

Politik

Genua - Lebend haben ihn nur seine Familie und ein paar Kameraden gekannt - und einige Polizisten. Die Bilder des toten Carlo Giuliani dagegen gehen um die Welt. Der 23-Jährige starb in Genua als erstes Opfer der Antiglobalisierungsbewegung, aus nächster Nähe erschossen von einem Beamten der Carabinieri. Fotografen haben aufgenommen, wie er in den letzten Sekunden seines Lebens ein Polizeiauto mit einem Feuerlöscher angreift. Zu sehen ist auch, wie ein Polizist mit der Waffe auf ihn zielt und der Wagen den jungen Mann anschließend überrollt.


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Die Bewegung, deren Mitglieder fast alle Gewalt ablehnen, solidarisiert sich nach seinem gewaltsamen Tod mit Giuliani. Blumen und Ehrbezeugungen an der Todesstelle, Sprechchöre, Demonstrationen und Graffiti in halb Europa: Die Antiglobalisierer haben ihren ersten Märtyrer...

Wie Carlo Giuliani bei den Protesten gegen den G-8-Gipfel von Genua getötet wurde, ergibt die amtliche Autopsie in brutaler Nüchternheit. Die Kugel aus der Waffe des Polizisten schlug in der linken Wange ein und trat durch den Nacken wieder aus. Giuliani war sofort tot, er erlebte nicht mehr, wie der Geländewagen ihn überrollte.

Der Todesschütze muss sich vermutlich vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft will ihn wegen Totschlags anklagen. Der Fahrer der Wagens dürfte weniger schwer beschuldigt werden, weil er keinen mit dem Tode Ringenden umbrachte, sondern einen Leichnam überfuhr.

In der Via Caffa liegt ein Haufen Sägemehl an der Stelle, wo der 23-Jährige den Tod fand. Vermummte legen Blumen und andere Gegenstände nieder. Menschen verneigen sich, ein Priester hält schweigend inne. Auf einem Banner prangt die wütende Parole: "No Justice, no Peace, fuck the Police!". Neben der improvisierten Gedenkstätte brennt eine Kerze.

Für die Polizei war Carlo Giuliani kein Unbekannter. Der Gewerkschaftersohn, der seinen kurz geschorenen Kopf bei seinem letzten Angriff unter einer Maske versteckte, war Mitglied der Autonomengruppe "Punk Bestia". Besitz von Stichwaffen, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Beamtenbeleidigung stehen in seinem Strafregister, dessen Inhalt die Sicherheitsbehörden wie um Verständnis heischend an die Öffentlichkeit geben.

Hat Giuliani seinen Tod selbst provoziert? Blieb dem Todesschützen keine andere Wahl, als in Notwehr abzudrücken? Ist die Polizei schuld oder Italiens Premier Silvio Berlusconi, der eine harte Linie gegen die Proteste anordnete? Haben die friedlichen Globalisierungsgegner im Vorfeld nicht genug gegen Gewalt in ihren Reihen getan? Oder haben die Mächtigen der Welt die Katastrophe mit ihrem Festhalten an dem umstrittenen Gipfeltreffen der reichen Länder mitverschuldet? Über diese Fragen wird trefflich gestritten in diesen Tagen, und natürlich hat niemand eine Antwort parat.

Vielen sind die Gründe auch egal. "Er war ein ganz normaler Kerl", sagt ein Demonstrant mit einem T-Shirt des Netzwerks ATTAC an der Todesstätte. Giuliani sei zwar nicht gerade ein Pazifist gewesen, "eine Kugel in den Kopf hat er aber nicht verdient". ATTAC lehnt Gewalt ab. "Aber wir können nicht akzeptieren, dass in einem demokratischen Land ein Mensch von der Polizei abgeknallt wird", sagt Nina Drange, die Chefin der Bewegung in Norwegen.

Für die Sicherheitskräfte ist der Fall jedenfalls verhängnisvoll. Sie bekämen nun ein "Märtyrerproblem", warnt der ehemalige Chef des deutschen Bundeskriminalamts (BKA), Hans-Ludwig Zachert. Ein Fall wie der Tod Giulianis "mobilisiert enorm gegenüber den Sicherheitsbehörden".