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Die Graffiti-Omas von Lissabon

Von Martin Zinggl

Reflexionen

Mittels "Streetart" und unter kundiger Anleitung bringen portugiesische Senioren Farben in ihren vorwiegend tristen Alltag.


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Eine bildhübsche Portugiesin dunkelt den Raum ab, um Fotos an eine Wand zu projizieren, die ihren Vortrag illustrieren. "Die Geschichte moderner Streetart von Lara Seixo Rodrigues", steht auf der beleuchteten Mauer geschrieben. Der Ort dieser Präsentation? Kein hippes Loft im Szeneviertel Lissabons, sondern das "Santa Casa", ein Tagesheim für Greise, Pensionisten und Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen.

18-köpfige Gruppe

Unter den Besuchern sind Alzheimer- und Parkinson-Patienten ebenso wie Schizophrene. Sie leiden unter Arthrose und Gicht, sehen oder hören schlecht, sitzen im Rollstuhl oder gehen auf Krücken. Die Gestalten in dem Heim versetzen zurück in ein Portugal der 1960er Jahre: depressive Gesichter, Schnauzbärte, Schiebermützen, Hemden mit endlos weitem Kragen, Pullunder in Erdfarben, konservative Röcke, Kittelschürzen, Hornbrillen und Kopftücher.

"Und, wer waren die allerersten Streetartisten?", fragt Rodrigues in die Runde. Ein Raunen fährt durch die 18-köpfige Gruppe. Dann zeigt sie ein Bild einer Höhlenwandmalerei, zwinkert mit den Augen, lächelt und beantwortet selbst die Frage: "In seiner Ursprungsform ist das moderne Graffiti nichts anderes als die Inschrift an einer Wand."

Es folgt eine Einführung in Geschichte, Techniken und unterschiedliche Stile dieser Kunst, ehe Rodrigues die Namen berühmter Graffiti-Künstler aufzählt: JR, Mr. Brainwash, Blek le Rat, Pastel, C215, Swoon, Dondy. Der Wert mancher Bilder, die weltweit in angesagten Galerien hängen, liegt bei 15- bis 20.000 Euro.

Eigentlich ist Rodrigues Architektin, aber nach zehn Jahren in diesem Beruf suchte sie dringend eine neue Lebensaufgabe. Die Zeit, die es benötigte, um die Früchte ihrer Arbeit zu sehen, dauerte der 38-Jährigen zu lange. "Ich wollte unmittelbare, greifbare Ergebnisse, also widmete ich mich fortan dem Kuratieren von Streetart-Projekten", erzählt sie. "Die Besucher in solchen Heimen sitzen lethargisch an ihren Tischen und langweilen sich zu Tode", sagt Rodrigues. "Sie sind frustriert ob ihrer Hilflosigkeit. Warum also nicht etwas Farbe in den tristen Alltag dieser Menschen bringen", dachte sich Rodrigues - und bot den Senioren einen zweitägigen Workshop zum Thema Streetart an.

"Kunst kann Mauern einreißen und Menschen miteinander verbinden. Und Streetart eignet sich besonders dafür", davon ist Rodrigues überzeugt. Und vielleicht hat sie auch selbst ein bisschen Sehnsucht, sich in der Nähe älterer Menschen aufzuhalten. Rodri-
gues’ eigene Großeltern sind bereits verstorben.

"Könnt ihr entziffern, was darauf geschrieben steht?", fragt Rodrigues erneut in die Runde. Schweigen. "DARE", sagt sie geduldig. "Das Zeichen eines berühmten Graffiti-Künstler aus der Schweiz. Leider ist er schon verstoben, mit nur 42 Jahren."

"Der Arme", sagt eine Frau, die eben noch döste, Maria Alicia Alves Mateiro lautet ihr Name. "Er wurde nur halb so alt wie ich!"

Über 300 Senioren begrüßte Rodrigues seit dem Beginn ihrer Kurse im Jahre 2012 - in Portugal, aber auch in Brasilien, den USA und Spanien. "Lata65" taufte sie die Workshops. "Lata" bedeutet auf Portugiesisch einerseits "Dose", allerdings auch "Mut aufbringen". Die Zahl "65" symbolisiert nicht nur das gesetzlich festgelegte Pensionsalter in Portugal, sondern auch das Mindestalter für die Teilnehmer, wobei Rodrigues heute ein Auge zudrückt und auch Jungspunde - mit 62 Jahren - mitwirken dürfen.

Hauptsächlich Frauen

"Unsere älteste Teilnehmerin zählte 102 Jahre", sagt Rodrigues stolz. Da sich vorwiegend Frauen den Workshops anschließen, erhielten die Damen und Herren den Beinamen "Graffiti-Omas". Auch dieses Mal nehmen nur drei Männer teil.

Die Idee für die Graffiti-Oma-Kurse entstand spontan während eines Streetart-Projekts in Rodrigues’ Heimatort Covilhã. An einem Platz ohne Leben ließ die Architektin eine Wand bemalen, um diese Kunst allen Bewohnern ihrer Stadt näher zu bringen. Innerhalb einer Woche verwandelte sich der Platz in ein fröhliches und buntes Viertel. Das größte Interesse strahlten allerdings die Senioren aus, nicht nur weil sie über Zeit verfügten oder sich über die "Schmierereien der Jugendlichen" beschwerten. "Sie stellten Millionen neugieriger, ehrlicher Fragen", sagt Rodrigues, die sie gerne beantwortete, "interpretierten die Bilder und waren mehr bei der Sache als so manch andere Generation." Grund genug für Rodrigues, Lata65 zu gründen, um mit dem Vorurteil aufzuräumen, dass Graffiti und alte Menschen nicht zueinander passen. Heute ist besagter Platz in Covilhã ein Treffpunkt für Jung und Alt.

Mit dem Ende von Rodrigues’ Vortrag erwachen auch die Senioren wieder und Leben kehrt in die verträumten Gesichter. Eine Teilnehmerin verlässt das Zimmer. "Ich bin raus", murmelt sie und lässt sich auch nicht von Rodri-gues überreden zu bleiben. Die Projektleiterin bleibt gelassen. "Normalerweise ist es andersrum", sagt sie. "Am Spraytag erscheinen immer mindestens zwei Teilnehmer mehr."

Persönliche Unterschrift

Die verbleibenden 17 Graffiti-Omas starten im zweiten Kursabschnitt mit der praktischen Arbeit. Sie sollen ihre eigenen tags kreieren. "Was ist das?", fragt Maria genervt, die erstmals in ihrem Leben etwas zeichnet. "Euer Logo", antwortet Rodrigues, "eine persönliche Unterschrift, an Stelle eures echten Namens. Damit weiß zwar jeder, wer das Bild gesprayt hat, aber die Polizei kann euch nicht identifizieren." Als sie das Wort "Polizei" hören, steht den Senioren Sorge ins Gesicht geschrieben. Rodrigues entwarnt sofort: "Der Stadtrat stellt uns die Rückwand des Tagesheims zur Verfügung, die wir hochoffiziell bemalen dürfen." "Außerdem", ergänzt sie, "möchte ich den Polizisten sehen, der den Mumm aufbringt, eine alte Frau wegen Vandalismus zu verhaften."

Rodrigues dreht Musikboxen auf, aus denen Wu Tang Clan rappen. Es folgen Raggadub, Triphop und andere experimentelle Musik. "Bisher hat sich noch niemand darüber beschwert", sagt sie fröhlich. Die Senioren blicken verwirrt durch den Raum, schauen einander neugierig und hilfesuchend an, beratschlagen sich gegenseitig dabei, Phantasienamen auszudenken, die letztlich kaum von klassischen Namen abweichen: aus Maria wird Alves, aus Ana wird Rosa, aus David wird Lima. Dann schreiben sie ihre Pseudonyme in Blockbuchstaben auf ein Blatt Papier: die Basis für die eigentliche Kunst.

Rodrigues holt sich Unterstützung bei anderen Streetartisten, die den Omas dabei helfen, die eigene Kreativität wieder anzukurbeln. Der 35-jährige Lisboeta Adrião Resende ist einer dieser Künstler, besser bekannt unter seinem tag Adres. Von Tisch zu Tisch dreht er Runden und zeigt den Senioren, wie aus ordinären Großbuchstaben plötzlich Gabeln und Äste wachsen, gerade Linien Kurven, Ecken und Perspektive bekommen - einfache, aber wirkungsvolle Methoden, die bei den Senioren Eindruck hinterlassen.

Anfangs noch schüchtern und misstrauisch, zeichnen einige Omas nun wild darauf los, verzieren und motzen ihre tags auf, sodass sie nur mehr von ihren Plätzen zu bewegen sind, um auf die Toilette zu gehen oder ein bisschen Bewegung zu machen. Mit einem Schlag verfliegen Angst und Sorge. Die Teilnehmerinnen lachen, scherzen miteinander, ermutigen sich gegenseitig, wagen immer kreativere Bilder.

Rodrigues’ und Adres’ Rolle bei diesem Prozess ist eine unterstützende. Sie überblicken das Gesamtbild und korrigieren da und dort Fehler, beispielsweise als Maria ein paar Küken malt. Zwar mit Liebe zum Detail, aber so winzig, dass sie auf eine Kinderhand passen könnten. Adres erklärt, warum sie größer sein müssen: "Diese Küken dienen später als Schablone. Bei dieser Größe käme nur ein Farbfleck auf der Wand heraus und niemand könnte diese niedlichen Tiere sehen." Maria nickt leicht widerwillig und zeichnet - mit Sorgfalt - erneut ihre Küken. Diesmal um das Dreifache vergrößert. Mit Graffiti verbindet sie nichts. "Da wo ich herkomme", sagt sie, "sind alle Häuser weiß gekalkt." Dann bietet sie Knäckebrot aus ihrer Keksdose an.

Kaum haben die Graffiti-Omas ihre tags und andere Bilder fertig entworfen, drücken ihnen Rodrigues und Adres Stanleymesser in die Hände, damit sie ihre eigenen Schablonen ausschneiden können. "Wozu brauchen wir die?", fragt Maria. "Damit ihr schnell und unbemerkt sprühen könnt", antwortet Rodrigues. Maria nickt erneut und seufzt, als müsse sie einen Marathon laufen.

Auch wenn die meisten Graffiti-Omas nach wie vor nicht verstehen, was taggen bedeutet, erarbeiten sie sich erfreut Schablonen mit ihrer persönlichen Signatur. Sie malen, schneiden und kleben. Rodrigues lacht zufrieden, als sie die Freude und den Einsatz ihrer Kursteilnehmerinnen sieht. Mit den Workshops will sie nicht nur versuchen, ihnen ein bisschen Wissen zu injizieren, sondern Senioren auch ermöglichen, diese Art der Kunst wertzuschätzen, wenn sie das nächste Mal Graffitis auf der Straße sehen.

"Das hilft ihnen dabei, sich mehr in der Gesellschaft und in ihren Wohnvierteln zu integrieren", sagt Rodrigues, die überzeugt ist, dass die Omas eine Menge zurückgeben können, wenn man ihnen nur den kreativen Raum dafür schafft.

Als Beispiel nennt Rodrigues den Namen jener Frau, die sich beim allerersten Workshop als herausragende Künstlerin entpuppte: Luísa Cortesão, besser bekannt unter ihrem tag *L. Sie entwarf auch das Logo von Lata65: eine sprühende Oma. Luísa, eine pensionierte Ärztin, bemalte Lissabons Wände und unterrichtete selbst bei Workshops, bis sie vergangenes Jahr einem Krebsleiden erlag. Ihre Kunstwerke aber schmücken Lissabon noch heute.

Um Punkt siebzehn Uhr hupt ein Bus dreimal, um die Omas aus dem Tagesheim abzuholen und sicher zu ihren Familien zu führen. Die Teilnehmer lassen ihre Kunstwerke liegen und eilen aus dem Zimmer. Aber anstelle von schüchternen Senioren verlassen an diesem Nachmittag lachende Menschen das Heim, lebhaft und fröhlich wie Kinder.

An der gelben Wand

Tags darauf trifft Rodrigues ihre Graffiti-Omas zum Showdown, um sich an einer jungfräulich gelben Wand zu vergehen. Viele Teilnehmer haben seit ihrer Kindheit nicht mehr gemalt - und schon gar nicht auf Wände. Maria hält sich vorerst im Hintergrund. Enthusiastisch stülpen die Graffiti-Omas Altkleider und Plastikschürzen über, ziehen Handschuhe an und setzen Mundschutzmasken auf. Zum Schluss bewaffnet sich jede mit einer Farbdose.

Adres erklärt die Sicherheitsregeln: "Den Knopf in der Mitte hinunterdrücken und immer vom Gesicht wegsprühen!" Mit dem Schütteln der Dosen legen die Omas endgültig ihre tagtägliche Frustration und Starre ab, ehe sie sich zaghaft und ungeschickt an der Wand versuchen. Free-Hand heißt der Stil, bei dem nach Lust und Laune gemalt und geschrieben wird. "Näher ran mit der Dose", empfiehlt Rodrigues und schreit: "Und jetzt drückt voll drauf!"

Dieser Satz animiert die Omas dazu, ausgelassen zu sprühen. Vergessen sind die Schmerzen in Armen und Beinen - und auch alle anderen Leiden, zumindest für den Moment. Grund zur Freude haben nicht nur die Seniorinnen, sondern auch Rodrigues und Adres, die darüber wachen, dass niemand umkippt, die Dose falsch hält oder sich sonst verletzt. Der Tumult erzeugt Sympathie in der Nachbarschaft. Neugierige Bewohner blicken aus den verwitterten Fensterläden ihrer Häuser und können ihren Augen kaum trauen: Alte Menschen brechen die Regeln und tun etwas, das ihnen sonst untersagt ist. Und sie genießen es.

"Die Spraydose verfügt über eine magische Kraft", sagt Rodri- gues, "sie funktioniert wie ein Schlüssel. Du drückst das Ventil - und Farbe strömt heraus, die sofort zum Zeichnen anregt. Jahrelang hören die Omas, dass sie zu alt für dies oder das seien. Dieser immergleiche Satz hinterlässt ein kaputtes Selbstvertrauen. Jetzt aber hinterlassen die Omas ihr eigenes Souvenir, das sie täglich daran erinnert, wozu sie auch in fortgeschrittenem Alter noch fähig sind."

Maria beobachtet ihre Kolleginnen aus der Ferne. "Vandalen", schimpft ihre kritische Stimme. "Tudo bem?", fragt Rodrigues. "Alles gut?" Verwirrt blickt sie zu der jungen Portugiesin: "Tudo bem, mein Kind! Ich bin nur müde vom Leben." Aufgewachsen in einem Dorf in Nordost-Portugal, wurde Maria mit 17 Jahren verheiratet. Die Schule hat sie nur von außen gesehen. Ihr Leben teilte sie zwischen der Feldarbeit und ihrem Mann, ehe dieser vor zwei Jahren verstorben ist.

Den Schmerz über diesen und andere Verluste verraten Marias Augen heute noch. Sie schwärmt von ihrer quinta, ihrem Stück Land, von Kohl, Erdäpfeln und anderen Produkten, die sie dort dem Boden abringen konnte, und einem Leben ohne Schnickschnack. Die Hände der Greisin liegen übereinander gefaltet auf ihrem Schoß. Übersät von Altersflecken, zeugen sie von harten Jahren auf dem Acker. Mit Kunst hat die alte Frau wenig am Hut. "Mein Mu-seum war mein Acker", sagt sie.

Wie kam sie darauf, an Rodrigues’ Kurs teilzunehmen? "Ich habe ja sonst nichts zu tun", antwortet Maria in gewohnt grantiger Manier. Missmutig lässt sie sich schlussendlich von den anderen Graffiti-Omas zur Wand mitnehmen, stülpt ein Paar Gummihandschuhe über, schüttelt ihre Farbdose und drückt den Finger auf das Ventil. Kurz darauf betrachtet sie ihr Werk, dessen Botschaft fortan die Außenwand des Tagesheims schmückt: ein knallrotes Herz.

Penibel füllt sie es mit Farbe aus, lässt nicht einen Finger breit aus, auch wenn sie nach und nach die Kraft verlässt. Zur Hilfe nimmt sie ihre zweite Hand. Danach hält Maria die eigenhändig angefertigte Schablone an die Mauer und besprüht diese mit schwarzer Farbe, sodass ein weiteres Bild an der Wand zurückbleibt: drei Küken. Zum Schluss markiert sie ihr Kunstwerk mit dem eigenen tag: Alves. Maria nimmt ihre Schutzmaske ab und schnauft erleichtert. "Genug des Vandalismus", sagt sie schnippisch. "Ich brauche eine Pause!"

Eindruck bei Familien

Punkt siebzehn Uhr hupt der Bus erneut dreimal und der Tumult findet ein jähes Ende. Schweren Herzens trennen sich die Graffiti-Omas von den Spraydosen. Einige haben Tränen in den Augen, als sie sich von Rodrigues und Adres verabschieden. "Kommt bald wieder", sagen sie hoffnungsvoll. Zurück bleibt eine Wand, geschmückt von einem Mischmasch aus Free-hand-Graffiti, Schablonen und 17 verschiedenen tags, wild übereinander gesprüht. Über all dem wacht die sprühende Oma, das Logo von Lata65. "Der Workshop nach dem Workshop folgt erst", sagt Rodrigues. "Ab morgen schleifen sie ihre Kinder, Enkel und Urenkel zur Wand und zeigen ihnen, was sie gezeichnet, geschnitten und schließlich gesprayt haben. Sie hinterlassen nicht nur Farbe auf den Wänden, sondern Eindruck bei ihren Familien."

Rodrigues fragt Maria zum Abschied, ob ihr der Kurs gefallen habe oder nicht? "Weder noch", antwortet Maria trocken, bevor sie kurz lächelt: "Aber ich würde es wieder tun."

MartinZinggl, geboren 1983, ist Autor und Dokumentarfilmer. Der Beitrag ist in längerer Fassung in seinem Buch "Lesereise Lissabon" (Picus Verlag) enthalten.