Zum Hauptinhalt springen

Die Grenzen der Einheit

Von Martyna Czarnowska aus Brüssel

Politik

Während die EU-Staaten beim Brexit auf eine gemeinsame Linie setzen, werden in der Flüchtlingspolitik die Brüche deutlich.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Brüssel. Die Einigkeit stößt an ihre Grenzen. Während die Europäer bei den Brexit-Verhandlungen mit London eine gemeinsame Linie verfolgen, werden die Klüfte bei anderen Themen wieder sichtbar. So überschattete eine kontroversielle Debatte über die Verteilung von Flüchtlingen den Auftakt des EU-Gipfels in Brüssel, der am heutigen Freitag fortgesetzt wird. Und selbst die Gespräche über den EU-Austritt Großbritanniens könnten Konfliktpotenzial in sich bergen. So prophezeite EU-Ratspräsident Donald Tusk, dass "der wirkliche Test für unsere Einheit" mit der zweiten Phase der Verhandlungen komme.

Dass Brüssel und London schon bald in diese Phase gelangen, wollte die britische Premierministerin Theresa May beim Treffen mit ihren EU-Amtskollegen bewirken. Es geht um die künftigen Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und der Insel sowie eine Übergangsfrist nach dem Ausscheiden des Königreichs im März 2019. Es zeichnete sich ab, dass die 27 EU-Staats- und Regierungschefs in die zweite Runde der Gespräche mit London gehen wollen. Immerhin hat die vorige Woche einen ersten Kompromiss in Knackpunkten gebracht, etwa bei der irisch-britischen Grenze, wo Kontrollen vermieden werden sollen.

Eines vermissen die Europäer allerdings noch immer: völlige Klarheit. Denn der politische Spielraum für Premier May schrumpft weiterhin. Am Mittwoch hatten die Abgeordneten des britischen Unterhauses beschlossen, das Parlament über die endgültige Austrittsvereinbarung entscheiden zu lassen.

Trotzdem zeigte sich May in Brüssel optimistisch, dass bei den Gesprächen mit anderen EU-Politikern Fortschritte gemacht würden. Und sie verwies auf andere Bereiche, bei denen die Union auf Großbritannien zählen könne - etwa bei der Sicherheit der Gemeinschaft. Denn auch das stand auf der Agenda des Gipfeltreffens: So betonten die EU-Staaten ihren Willen zur engen Kooperation mit dem Militärbündnis Nato. Dessen Generalsekretär Jens Stoltenberg nahm außerdem an einer kurzen Zeremonie zur Würdigung des Pesco (Ständige strukturierte Zusammenarbeit) genannten EU-Verbunds zur gemeinsamen Verteidigung teil. An dem diese Woche beschlossenen Vorhaben beteiligen sich lediglich Großbritannien, Dänemark und Malta nicht.

Deutlicher sind hingegen die Differenzen in den Plänen zur EU-Flüchtlingspolitik. Schon im Vorfeld des Gipfels hatte der aus Polen stammende Ratspräsident die Debatte um Quoten zur Verteilung von Asylwerbern in allen Mitgliedstaaten angeheizt. Das Thema würde die EU spalten, und daher wäre so ein Mechanismus nicht effektiv, schrieb Tusk in seinem Einladungsbrief an die Staats- und Regierungschefs.

Geld statt Umverteilung

Lob dafür erntete er beim Spitzentreffen in Brüssel von einigen Osteuropäern, die sich von Anfang an gegen eine verbindliche Aufnahmequote gesperrt haben. Bei dieser Linie bleiben auch die neuen Ministerpräsidenten Polens und Tschechiens, Mateusz Morawiecki und Andrej Babis, der einen Mechanismus schlicht als "sinnlos" bezeichnete. Die EU-Kommission hingegen hatte die beiden Staaten sowie Ungarn verklagt, weil die Länder einen EU-Beschluss zur Verteilung nicht umsetzen wollen.

Kritik an den Osteuropäern kam ebenfalls aus westeuropäischen Staaten. Österreichs Bundeskanzler Christian Kern ging dabei auf Tusks Schreiben ein. "Das grundsätzliche Denken, das in dem Brief zum Ausdruck kommt, lehne ich im höchsten Maße ab", erklärte er. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel - wie Kern geschäftsführend - pochte auf Solidarität aller Mitglieder in der Flüchtlingspolitik.

Doch auch die Gruppe der vier Visegrad-Länder spricht von Solidarität. Was sie darunter verstehen, gaben Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei in einer gemeinsamen Erklärung bekannt. Sie wollen einen Beitrag zum EU-Afrika-Fonds leisten. 35 Millionen Euro sollen in den Topf fließen, den Italien verwaltet und der unter anderem zur Unterstützung der libyschen Küstenwache bei der Kontrolle ihrer Hoheitsgewässer dient. Die Sicherung der Grenzen der EU sei nämlich das einzige wirksame Mittel gegen illegale Migration, betonte der ungarische Premier Viktor Orban erneut.

Polen droht Strafverfahren

Polen droht unterdessen in der EU weiteres Ungemach. Wegen einer umstrittenen Justizreform, die die EU-Kommission bereits zu einer Prüfung der Rechtsstaatlichkeit in dem Land veranlasste, könnte es Strafmaßnahmen geben. So rechnet Premier Morawiecki mit der Aktivierung von Artikel 7 durch die Kommission. Bei dem Verfahren geht es in einem ersten Schritt um die Feststellung, ob die "eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" europäischer Grundwerte existiere. In letzter Konsequenz können dem Staat Stimmrechte bei EU-Ministersitzungen entzogen werden. Dem müssten allerdings alle anderen Mitglieder zustimmen - und Ungarn hat schon sein Veto angekündigt.

Morawiecki selbst geht davon aus, dass Artikel 7 in der kommenden Woche in Brüssel zur Debatte stehen könnte. Sollte es zu "solch einem unfairen Verfahren" kommen, "werden wir von Anfang an bis zum Ende ganz sicher mit unseren Partnern sprechen", zitiert ihn die Nachrichtenagentur Reuters. Erst in der Vorwoche hat das polnische Parlament trotz der EU-Einwände weitere Gesetzesentwürfe beschlossen, die in die Struktur der Gerichte eingreifen. Die Änderungen muss noch der Staatspräsident unterzeichnen.