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Die Grenzen der Erreichbarkeit

Von Adrian Lobe

Gastkommentare
Adrian Lobe: Der freie Journalist studiert Politik- und Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg und ist für verschiedene Zeitungen im deutschsprachigen Raum tätig.

Die Politik sollte sich nach Vorbild Frankreichs für digitale Schonfristen für Arbeitnehmer einsetzen. Arbeit und Zuhause müssen getrennt bleiben.


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Über den Satz "Ich fahre mit meinem Auto zur Arbeit" werden sich unsere Enkelkinder einst wundern. Diese Tatsache, die heute für uns selbstverständlich erscheint, wird man in 50 Jahren nicht mehr ganz so leicht nachvollziehen können. Und zwar in dreierlei Hinsicht.

Erstens wird es in Zukunft in den Großstädten eine beträchtliche Zahl selbstfahrender Autos geben. Der Fahrer steuert nicht mehr selbst, sondern gibt dem Computer lediglich die Koordinaten an, zu denen er gerne hin möchte. Zweitens werden nur noch die wenigsten ein eigenes Auto besitzen - man betreibt Carsharing. Und drittens wird die Unterscheidung zwischen Arbeit und Zuhause überfällig werden.

Man fährt nicht mehr "zur Arbeit". Arbeit wird entgrenzt - sie ist künftig überall. Man arbeitet von zu Hause aus, checkt nach Feierabend Mails und bearbeitet auf dem Spielplatz mit den Kindern Anfragen eines Kollegen. Der klassische Nine-to-five-Job, bei dem man morgens um 9 Uhr ins Büro kommt und es nachmittags um 5 Uhr wieder verlässt, wird der Vergangenheit angehören. Das Geschäft nimmt man oftmals mit nach Hause. Konsequenz: Der Feierabend ist nicht mehr eindeutig terminiert.

Wir erleben eine Enträumlichung und Entzeitlichung der Arbeit. Im Zeitalter der Industrialisierung schufteten Arbeiter 100 Stunden in Fabriken und hausten in engen Mietskasernen. Der Wohlfahrtsstaat hat die Arbeitsbedingungen verbessert und die materielle Not der Arbeiter gelindert. Sieht man von den "working poor" einmal ab, nagt in Westeuropa kein Arbeitnehmer mehr am Hungertuch. Gleichwohl macht Arbeit immer mehr Menschen krank. Die Zahl der Burnouts und Depressionserkrankungen hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Sie sind als individuelle Ausstiegsreaktionen auf den überhöhten Beschleunigungsdruck in der Gesellschaft zu verstehen. Darum fragt die Generation Y schon beim Einstellungsgespräch nach dem Sabbatical. Die 20- bis 30-Jährigen wollen nicht mehr Geld, sondern mehr Freizeit.

Eigentlich müssten unsere Zeitkonten ja prall gefüllt sein. Ein Flug von London nach New York dauert heute gut sechs Stunden. Für eine Korrespondenz zwischen New York und Tokio benötigt man - dank E-Mail - nur wenige Sekunden. Das spart enorm Zeit. Und doch fühlen wir uns wie Getriebene einer unbarmherzigen Geschäftswelt. Immer schneller, produktiver, effizienter müssen die Abläufe sein. Der technische Fortschritt eilt dem sozialen Fortschritt voraus. Die Akzeleration, die Beschleunigung der Kommunikation, ist kein Gewinn, weil sie uns zwingt, immer mehr Dinge in kürzerer Zeit zu erledigen: mehr E-Mails, mehr Telefonate, mehr Informationen.

Der Einzelne fühlt sich bei dieser Hetzjagd ermattet - und abgehängt. Die ständige Erreichbarkeit und Verfügbarkeit macht uns zu Sklaven der Informationstechnologie. Dabei muss man auch einmal abschalten. Jeder Arbeitnehmer hat ein Recht auf Ruhe - und Nichterreichbarkeit. In Frankreich gibt es für Arbeitgeber bald eine "Pflicht zum Abschalten": Nach Feierabend sollen berufliche Mail-Server geschlossen werden. Die Politik sollte sich für verbindliche Schonfristen einsetzen - einen Ausschaltknopf vom Netz. Arbeit und Zuhause müssen auch in Zukunft getrennt sein.