Zum Hauptinhalt springen

Die Grenzen der Solidarität

Von Peter Hilpold

Recht

Die EU und die Souveränität der Mitgliedstaaten - vom Uni-Zugang bis zum Mautstreit.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Eine Reihe von tatsächlichen und potenziellen Streitfällen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten berührt - direkt oder indirekt - die Interessen Österreichs. Dabei weht aus Brüssel und Luxemburg ein auffallend freundlicher Wind. Was noch vor kurzem undenkbar oder schwer möglich schien, wird nun "durchgewunken": Die Inländerquote von 75 Prozent für den Zugang zum Medizinstudium in Österreich - in der Rechtssache Bressol noch an nahezu unüberwindbare Voraussetzungen geknüpft - scheint nun machbar zu sein, und zwar sogar auf permanenter Basis. Die deutsche Maut, die nach den letzten Korrekturen die übrigen Unionsbürger nicht mehr drastisch und frech diskriminiert, sondern nur noch "ein bisschen", wird nun von der EU-Kommission für akzeptabel erachtet. Die Kommission hat kürzlich sogar das "sektorale Fahrverbot" - in stark aufgeweichter Form - geschluckt, ein ewiger Zankapfel zwischen Brüssel einerseits und Wien und Tirol andererseits.

Bemerkenswert ist dabei: Die in der Vergangenheit ob ihrer Unnachgiebigkeit, ja Härte, allseits getadelte EU-Kommission steht nun im Kreuzfeuer der Kritik durch jene Staaten, die aufgrund dieses Entgegenkommens plötzlich auf der Verliererseite stehen.

Die Medizinerquote stößt auf wenig Gegenliebe in Deutschland, das sektorale Fahrverbot ruft die italienischen und bayrischen Frächter auf den Plan und in Bozen sind bereits rechtliche Schritte dagegen eingeleitet worden. Aber auch in Österreich stößt die Brüsseler Nachsicht für "begrenzte Diskriminierungsmaßnahmen" nur eingeschränkt auf Wohlwollen: Die deutschen Mautpläne sorgen in Österreich selbst in der abgeschwächten Version für Irritationen und es werden wiederum rechtliche Schritte angedacht.

Regeln in der Union bringen nicht nur Nachteile

Dabei wird übersehen, dass Regeln in einer Union im Zeitablauf Vor- und Nachteile bringen. Es geht weniger darum, national den größten Vorteil daraus zu schlagen, sondern ihre Gestaltung und Auslegung so zu beeinflussen, dass das Gemeinwesen als solches - und auf diesem Wege auch Österreich - den größten Vorteil daraus zieht. Und dies setzt keineswegs uneingeschränkte Solidarität voraus.

Die größeren Umbrüche, die sich auf EU-Ebene über die Jahre hin ergeben haben, sind in Österreich vielfach übersehen und fehlinterpretiert worden. Dass ein Versuch unternommen worden wäre, darauf Einfluss zu nehmen, ganz zu schweigen.

Die Niederlage vor dem EuGH im Streit um den Hochschulzugang im Jahr 2005 im Verfahren C-147/03, beruhend nicht nur auf einer ungenügenden Verhandlungsstrategie zum Zeitpunkt des EU-Beitritts, sondern vor allem auch auf einer Verteidigung in Luxemburg, über die sich sogar der Generalanwalt amüsierte, saß Österreich noch Jahre danach in den Knochen. Die Bemühungen um ein sektorales Fahrverbot waren ebenfalls von einer Abfolge von Niederlagen vor dem EuGH (2003 und 2011) gekennzeichnet - trotz gutachterlicher Bestärkung, dass die jeweilige Regelung halten müsste. Die Medizinerquote kann Schlimmstes in der ärztlichen Versorgung verhindern; sie ändert aber nichts daran, dass Österreich einen völlig unverhältnismäßigen Beitrag zur Finanzierung der akademischen Ausbildung der deutschen Jugend leistet - und das bei einem ohnehin chronisch unterfinanzierten österreichischen Hochschulwesen.

Das jetzige Entgegenkommen der EU gegenüber Österreich ist wohl im Lichte eines Strukturwandels im europäischen Integrationsprozess zu sehen, der in Österreich vielfach nur unzureichend wahrgenommen worden ist. Die "Brexit"-Entscheidung ist nur der Endpunkt einer langen Entwicklung, in deren Rahmen eine oft nur durch die Rechtsprechung herbeigeführte "immer engere Union" von den Mitgliedstaaten nicht mehr mitgetragen worden ist. Ganz deutlich äußerte sich dies im Kontext der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Über das Konzept der Unionsbürgerschaft wurden - beginnend mit Martinez Sala (1998) - auch nicht werktätigen Unionsbürgern immer weiter reichende Sozialansprüche eingeräumt, die im Ergebnis die Existenz eines EU-Staates mit voll ausgereiften Solidariätsverpflichtungen antizipierte, der aber nicht existiert und nicht einmal absehbar ist. Im Fall Dano hat der EuGH aber vor kurzem (2014) dieser Entwicklung radikal einen Riegel vorgeschoben. Seitdem ist klar zu erkennen, dass der EuGH auf die Vorbehalte der Mitgliedstaaten zu diesem Prozess hört. Seit Alimanovic (2015) ist wohl von einer klaren Trendwende zu sprechen.

© privat

Im Ergebnis bedeutet dies: Der Schutz vor Diskriminierung bleibt nach wie vor ein hohes Gut, aber eine "grenzenlos grenzüberschreitende" Anspruchsberechtigung für Sozialleistungen ist mit dem jetzigen europäischen Integrationsstand nicht zu vereinbaren. Solange die EU ein Staatenverbund und kein Staat ist, kann Solidarität nur in eingeschränktem Maße vorausgesetzt und verlangt werden.

Zeit, neue Regeln für Hochschulzugang einzufordern

Bezogen auf die für Österreich so zentrale Hochschulfrage wäre dies möglicherweise ein guter Anlass, ganz grundlegend eine Neubestimmung der Regeln zu verlangen. Mittlerweile ist weithin in Vergessenheit geraten, wie sehr der Hochschulzugang der Unionsbürger weit mehr eine Schöpfung der Rechtsprechung, noch dazu eine wenig überzeugende, ist als ein primärrechtlich begründetes Prinzip. Der Slogan des "Europäischen Hochschulraums" kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Studienplätze Kosten verursachen und eine bildungspolitische Entscheidung Österreichs, freien, kostenlosen Hochschulzugang zu gewähren, nicht automatisch implizieren kann, dass dieser Zugang ohne Ausgleichsmechanismen allen Unionsbürgern zu gewähren wäre. Dass der aufgezeigte Sinneswandel beim EuGH für eine Kehrtwende auch in diesem Bereich reichen würde, ist angesichts der Dimension dieser Materie nicht ohne weiteres anzunehmen, weshalb hier wohl begleitende politische Initiativen erforderlich wären.

In der Migrationsfrage hat Österreich gezeigt, dass die Geltendmachung von zentralen nationalen Interessen in Brüssel und den Hauptstädten der Mitgliedstaaten auf ein gewisses Verständnis stößt: Interessanterweise hat dabei das Drohen mit einer klar unionsrechtswidrigen Quotenregelung zu einer Intensivierung der Maßnahmen auf EU-Ebene in Hinblick auf einen besseren Schutz der Außengrenzen geführt.

Dabei soll keineswegs einer Relativierung der europäischen Integration das Wort geredet werden. Es soll vielmehr verdeutlicht werden, dass eine Überstrapazierung des Solidaritätsanliegens den Integrationsprozess insgesamt gefährdet. Die deutsche Mautregelung zu akzeptieren bedeutet, ein Auge zuzudrücken - wissend, dass dieses Anliegen in Deutschland längst schon zu einem zentralen Politikum geworden ist. Es wäre aber kein besserer Zeitpunkt denkbar, in einem Atemzug auch den Hochschulzugang der Unionsbürger auf eine neue Basis zu stellen. Ein resoluteres Auftreten Österreichs in dieser Frage wäre politisch und rechtlich zu rechtfertigen.

Peter Hilpold ist Professor für Völkerrecht, Europarecht und Vergleichendes Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck und Autor von über 200 Publikationen. Unter anderem hat er gemeinsam mit Günther Roth das Buch "Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten" (Linde-Verlag) herausgegeben.