Jeffrey Sachs zur Ukraine-Krise und zu den Herausforderungen für die EU.| Der Wirtschaftsprofessor fordert Umschuldung für Griechenland und mehr Verantwortung.
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Wien. Der 59-jährige US-Ökonom und Professor für nachhaltige Entwicklung der University of Columbia gilt als einer der einflussreichsten Wirtschaftsexperten. Jeffrey Sachs schlug nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen "Marshall-Plan" für Russland vor, den die damalige US-Regierung aber ablehnte. Sachs ist
UN-Berater für die "Millennium Goals", die unter anderem eine Senkung der Armut zum Ziel haben. Anlässlich eines Besuchs am Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg sprach die "Wiener Zeitung" mit dem amerikanischen Experten.
"Wiener Zeitung": Herr Sachs, wird die Ukraine-Krise einen neuen Kalten Krieg auslösen?Jeffrey Sachs: Das ist eine sehr ernst zu nehmende Krise und ich bin wirklich beunruhigt. Eigentlich ist Russland ja gebunden an das Budapester Abkommen aus dem Jahr 1994. Darin hat sich Russland verpflichtet, Souveränität, Unabhängigkeit und bestehenden Grenzen von Weißrussland, Kasachstan und eben auch der Ukraine zu respektieren. Russland ist daran gebunden und muss sehr vorsichtig sein.
Sollen die USA und die EU Ihrer Meinung nach harte Sanktionen gegen Russland beschließen?
Sanktionen sind grundsätzlich immer destruktiv, und es gibt in dieser Situation keine leichten Antworten. Ich würde begrüßen, wenn die gegenwärtige Krise auf Ebene der Vereinten Nationen, im UN-Sicherheitsrat, gelöst werden könnte.
Aber was gibt es da zu lösen? Russland hat auf der Krim einen fait
accompli geschaffen. Putin wird die Halbinsel, auf der die Schwarzmeerflotte stationiert ist, nicht mehr hergeben.
Ich kann das so nicht glauben. Noch einmal, wenn es einen fait accompli wäre, würde Russland gegen bindende Verträge verstoßen. Es geht hier um ein Abkommen mit Auswirkungen auf den Atomwaffensperrvertrag. Russland ist aber interessiert an internationalen Beziehungen, es gibt ja viele andere internationale Handels- und Finanzabkommen, die für das Land wichtig sind. Und es gibt noch einen zweiten Aspekt, den Russland zu beachten hat: Wenn die Grenzen der Ukraine missachtet werden, wird es auch für andere Länder schwierig (Sachs meint Kasachstan und Weißrussland, erwähnte die Länder aber nicht, Anm.).
Herr Sachs, Sie kennen Russland und waren dort nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Berater tätig. Der Versuch, rasch und radikal Russland in eine reine Marktwirtschaft umzubauen, hat Ihnen auch Kritik eingebracht. Glauben Sie nicht, dass die jetzigen Pläne Putins, eine große Rubel-
Zone zu schaffen, auch aus negativen Erfahrungen dieser Zeit herrühren?
Sie vermischen hier zwei Themen, das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun. Ich war 1992 und 1993 (damals lehrte Sachs in Harvard, Anm.) zwei Jahre lang als Berater des damaligen Ministerpräsidenten Gaidar tätig. Und ich habe vorgeschlagen, dass der Westen Russland mit großzügiger finanzieller Hilfe unterstützt. Aber auf mich hörte niemand, weder die USA noch die EU gaben diese finanzielle Hilfe. Wenn wir also nach Verantwortung fragen, so ist diese Frage an die damalige US-Regierung, die EU-Kommission und den Internationalen Währungsfonds zu richten. Dadurch entstand in Russland ein Gefühl des "stand alone". Zum zweiten Teil Ihrer Frage ist zu sagen, dass eine Zone wie die Eurasische Union nicht mit Gewalt durchgesetzt werden kann. Ökonomische Integration ist etwas ganz anderes als die Schaffung eines Imperiums. Die Ukraine etwa braucht ökonomisch gute Beziehungen, sowohl zum Westen als auch zu Russland.
Stichwort ökonomische Integration: Wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung der Europäischen Union?
Die EU ist eine unvollständige Konstruktion. Der Prozess Europas ist nicht einfach, aber eindeutig positiv. Aber es gibt ungelöste Probleme, etwa in Griechenland. Die Verschuldung des Landes ist viel zu hoch. Griechenland benötigt eine Umschuldung. Die Laufzeiten müssen verlängert, die Zinsen gesenkt werden. In so einer Situation haben auch die Gläubiger eine Verantwortung, die Last besser zu verteilen und soziale und politische Kapazitäten des Landes dabei zu berücksichtigen. Große soziale Konflikte wären für die EU gefährlich. Ich verweise auf den großen Ökonomen Keynes, der 1919 nach dem Studium des Vertrags von Versailles (der Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg hohe Reparationszahlungen auferlegte) schon erklärte, dass dies in einer Katastrophe enden würde.
Sie glauben also nicht, dass die Euro-Krise vorbei ist, wie Kommissionspräsident Barroso verkündete?
Die Gefahr des Zerbrechens der Eurozone ist vorbei. Aber wenn - wie in Griechenland - 25 Prozent der Menschen arbeitslos sind und mehr als die Hälfte der Jugendlichen keine Arbeit findet, dann kann man nicht davon sprechen, dass die Krise vorbei ist.
Was halten Sie von den Sparplänen für diese Länder? Viele sagen ja, dass sie die Krise nur vertiefen würden.
Ich glaube, dass die Programme insgesamt gut sind. Aber es gibt, wie ich zuvor schon mit Verweis auf Keynes sagte, Limits. In diesem Punkt bin ich Kritiker der Austerität. Die EU sollte insgesamt pragmatischer agieren, und weniger regelkonform. Griechenland muss seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Steuerbegünstigungen für Investoren wären sinnvoll, aber die EU verbietet solche Beihilfen. Es müsste endlich klargestellt werden, dass alle Verantwortung tragen.
Um dieser Verantwortung Krisenländern gegenüber gerecht zu werden, braucht es nicht nur Geld, sondern vor allem Zeit. Die Kapitalmärkte sind aber auf kurzfristige Erträge fixiert. Kann das bestehende Finanzsystem diese Verantwortung überhaupt wahrnehmen?
Nicht nur die Märkte, auch die Politik. Jede Regierung denkt nur an den nächsten Wahltermin, aber niemand mehr über Zeiträume von 25 bis 30 Jahren. Auch das Finanzsystem hat einen viel zu kurzen Horizont für Investments. Das ist schade, denn es gibt ja - anders als viele Banken behaupten - ausreichend langfristiges Kapital. Denken Sie nur an die vielen Pensionsfonds. Doch dieses Geld wird in kurzfristige Veranlagungen gesteckt. Wir beschäftigen uns in der UNO mit dem Thema "maturity descruction" immer stärker ("maturity"
bedeutet Fälligkeit, Fristigkeit, Anm.d.Red.). Dabei könnte bestehendes Kapital viel sinnvoller eingesetzt werden.
Sie haben ein Buch geschrieben über das Ende der Armut. Wie kommen wir damit voran?
Es wurden bemerkenswerte Fortschritte gemacht. In Entwicklungsländern ist die Armut seit 1990 um die Hälfte gesunken. Nun hat die Weltbank die Mission, dass bis 2030 niemand mehr extrem arm sein soll. Ab 2015 sind nachhaltige Entwicklungsziele oberstes Gebot der UNO. Allerdings müssen auch die damit verbundenen Aufgaben bewältigt werden. Denn immer noch erhalten zu viele Kinder in Afrika keine Ausbildung und heiraten zu viele Frauen sehr jung, sodass sie sechs bis acht Kinder bekommen. Wenn die Bevölkerung aber weiterhin so stark wächst, wird es unmöglich, die Armut zu stoppen. Wären die Frauen besser ausgebildet, bekämen sei weniger Kinder, was gleich zwei Probleme lösen würde. Weiters müssen wir beim Klimawandel handeln, denn sonst werden in Entwicklungsländern die Hungersnöte chronisch und wird es in westlichen Ländern Massenimmigration geben.
Sie haben die UNO zu den (derzeitigen) Millennium Development Goals beraten. Wie viele davon glauben Sie werden bis zur Deadline 2015 verwirklicht sein?
Die meisten Ländern werden einige Ziele zur Verbesserung von Wasserversorgung und Bildung und zur Senkung der Armut erreicht haben, manche sogar alle davon. Natürlich gibt es Defizite bei der Performance, die Fortschritte sind unvollständig und zerbrechlich. Einerseits halten sich manche Länder nicht an Entwicklungsstrategien, andererseits machen die USA und Europa aus Versprechungen zu Schall und Rauch. 2002 planten sie 0,7 Prozent des Bruttonationalprodukts in Entwicklungshilfen zu investieren, 2005 versprachen sie, die Hilfen für Afrika bis 2010 zu verdoppeln. Weder das eine noch das andere Ziel wurde umgesetzt.
Nun setzt sich die UNO neue "Sustainable Development Goals" (Ziele zur nachhaltigen Entwicklung), wonach bis 2030 extreme Armut eliminiert werden soll, obwohl das Vorgänger-Programm noch nicht ganz umgesetzt ist. Ist es besser, irgendein Ziel zu haben, als keines?
Nachhaltige Entwicklung bezieht sich auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Ich bin sehr bemüht um die Ausformulierung dieser Ziele, denn wir haben so wenig, wonach wir uns weltweit gemeinsam richten können, und ohne gemeinsame Vorhaben können wir nichts umsetzen. Natürlich ist es schwierig, moralische Verpflichtungen einzuhalten in einer Welt, die nicht einmal rechtliche Vereinbarungen ehrt. Dennoch geben die Ziele die Richtung der Maßnahmen vor und ziehen Regierungen zur Verantwortung. Eine Finanzreform wäre allerdings wichtig für eine Strategie der nachhaltigen Entwicklung.
Jeffrey Sachs (59) ist Direktor des Earth Institute der Columbia University in New York. Er ist Sonderberater der UNO für die "Millennium Development Goals" zur Senkung der weltweiten Armut sowie Direktor des "Sustainable Solutions Network" der UNO. Gestern Abend referierte er auf Einladung des IIASA und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) zum Thema nachhaltige Entwicklung in Wien. Zu seinen Büchern zählen "Das Ende der Armut" und "Der Preis der Zivilisation".