Zum Hauptinhalt springen

Die Grenzen Europas

Von Wolfgang Müller-Funk

Gastkommentare
Wolfgang Müller-Funk war (Gast-)Professor für Kulturwissenschaften unteranderen an den Universitäten Birmingham, Wien, Sapienza, Rom und Oslo. Eine Langfassung des Gastkommentars ist als "Policy Brief" der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) erschienen (www.oegfe.at/policybriefs).
© HWR

An der grundlegenden Idee, den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts zu überwinden, sollten wir 2019 festhalten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Die Grenzen Europas" (Titel einer prominent besetzten internationalen Konferenz am Istitituto Italiano di Studi Germanici in Rom im Februar) ist eine Formel mit doppeltem Boden. Im Genitivus objectivus fragt sie landläufig nach den Grenzen des Halbkontinents, den schon der Philosoph Paul Valéry als eine der asiatischen Landmasse vorgelagerte Halbinsel begriffen hat. Im Genitivus subjectivus ist Europa eine handelnde symbolische Entität, die selbst bestimmt, was ihre Grenzen sind und was Europa ausmacht. Letzteres rückt also die Frage nach dem Selbstverständnis und dem Selbstbild des Halbkontinents ins Zentrum.

Grenzen lassen sich nicht abschaffen, sie sind auf die eine oder andere Weise stets vorhanden. Was wir tun können, ist Grenzen zu gestalten.
So können wir entscheiden, wie wir Öffnungs- und Schließungsprozesse festlegen, welche Verbindungen wir präferieren und welche Trennlinien unabdingbar sind. Europa ist eine symbolische Manufaktur, die Grenzen neu bestimmt. So hat sich die Europäische Union dafür entschieden, an den nach 1945 entstandenen Grenzen, ungeachtet der Fragen, ob sie gerecht sind oder nicht, keinesfalls zu rütteln, sie aber gleichzeitig radikal zu verändern, sodass sie am Ende den innerstaatlichen Verwaltungsgrenzen zwischen Bundesländern, Kantonen, Provinzen, Gespanschaften, Kreisen, Regionen oder Komitaten ähneln.

Ein weitverbreitetes Vorurteil ist, dass Grenzen sichtbar sind. Aber das trifft nur auf wenige liminale Phänomene zu. Zwischen Menschen bestehen im Normalfall ganz bestimmte Grenzen, die - in persönlichen Situationen und überfüllten städtischen Verkehrsmitteln - eingehalten werden sollen. Jede Situation des Fremd-Seins ist mit unsichtbaren Grenzen verbunden. Der grenzüberschreitende Schritt des gemeinsamen Geldes provoziert die Frage nach grenzüberschreitender gemeinsamer, transnationaler Sozial-, Wirtschafts- und Steuerpolitik.

An der grundlegenden Idee, den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts zu überwinden, sollten wir 2019 festhalten. In diesem Fall kann man wirklich von einer Aufhebung im doppelten Wortsinn - nämlich Beseitigung und Erhalt - sprechen. Das europäische Projekt hebt den traditionellen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts auf, schränkt ihn ein und beseitigt ihn auch. Was es indes in modifizierter Form aufhebt und bewahrt, ist das demokratische Erbe, das es auf eine transnationale Ebene hebt, um den kontrafaktischen Wahn von Nation und Nationalismus einzudämmen: sein Bestreben nach Homogenität, seine Konstruktion des Anderen als Feind, sein damit verbundenes aggressives Potenzial und vor allem seine Idee strikter Grenzen.

In einer global gewordenen Welt ist der europäische Nationalstaat keine politische Entität, die imstande wäre, Freiheit in all ihren Facetten - Handlungsfähigkeit, Menschenrechte, Souveränität, Meinungsfreiheit - zu gewährleisten. Auf die Erzählung von Freiheit, Respekt gegenüber anderen, Bereitschaft zu Frieden, Ausgleich und Austausch ist jenes Europa gegründet, das wir nicht nur verteidigen, sondern in friedlicher Auseinandersetzung mit seinen Gegnern weiterentwickeln sollten.