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Wien - 1,25 Millionen Kosovaren sind am Samstag aufgerufen, in ersten freien Wahlen ihre Volksvertreter selbst zu bestimmen. Das künftige Abgeordnetenhaus wird 120 Sitze umfassen, wobei 10 Mandate den Kosovo-Serben und weitere 10 den übrigen Minderheiten vorbehalten bleiben. Die restlichen 100 Sitze werden nach dem Verhältnis-Wahlrecht auf sämtliche antretende Parteien und Bündnisse verteilt.
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Wichtigste Aufgabe des neues Parlaments wird die Wahl eines Regierungschefs und eines Präsidenten sein. Letzterer nimmt vor allem repräsentative Aufgaben wahr, seine Wahl bedarf einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Das künftige Kabinett setzt sich aus neun Ministern zusammen, einer davon steht den Serben zu, der andere gehört einer anderen Minderheit. So steht es in dem Verfassungsrahmen, den der Chef der UNO-Verwaltung im Kosovo, Hans Häkkerup, bereits im Mai festgelegt hatte und innerhalb dessen das Kosovo seine Politik (in erster Linie die Gesundheits- und Bildungspolitik) in Zukunft weitgehend autonom gestalten darf. Auch die Aufgaben der Polizei sollen allmählich in die Zuständigkeit der Selbstverwaltungsbehörden übergehen.
Doch damit hat es sich in puncto Selbstbestimmung auch schon wieder. Nicht nur behält der UN-Chefverwalter weitgehende politische Mitspracherechte bis hin zur Auflösung des Parlaments, auch der von den Kosovo-Albanern angestrebten Unabhängigkeit der südserbischen Provinz sind Riegel vorgesetzt. So kann im neuen Parlament ohne Einwilligung der UNO-Verwaltung für das Kosovo (UNMIK) kein Unabhängigkeitsreferendum beschlossen werden. Die Gültigkeit der 1999 abgesegneten UNO-Resolution 1244, die das Kosovo als autonomen Teil Jugoslawiens definiert, bleibt somit - vorerst - unangetastet.
Die Internationale Staatengemeinschaft, repräsentiert durch UNMIK und OSZE, verweist auf dringlichere Anliegen wie die Schaffung demokratischer Strukturen und den Wiederaufbau. Die Definition des künftigen Status der Provinz "kommt zuletzt", machte der Chef der OSZE-Mission in Kosovo, Daan Everts, angesichts der hitzigen Wahlkampfdebatte kürzlich klar. Dieses Kapitel steht "nicht auf der Tagesordnung, und zwar "noch lange nicht". Das Status-Thema werde vielleicht irgendeinmal aktuell, wenn die Staatengemeinschaft die Stunde dafür gekommen sieht. Erst einmal müsse das Haus in Ordnung gebracht werden.
Die Falle
Für viele Kosovo-Serben ist das nicht ausreichend. Trotz eindringlicher Appelle der Belgrader Führung lehnten mächtige Lokalpolitiker, allen voran der Chef der Serbischen Widerstandsbewegung, Momcilo Trajkovic, bis zuletzt eine Beteiligung an dem Urnengang ab. Bei einem eigens einberufenen Treffen in Gracanica, an dem auch der Vize-Vorsitzende der Demokratischen Partei Serbiens, Marko Jaksic, teilnahm, wurde die Wahl ausdrücklich als Präjudiz für die vom Westen insgeheim betriebene Abspaltung des Kosovo von Belgrad gebrandmarkt. Der Urnengang sei eine Falle.
Wie viele Kosovo-Serben dem Ruf des populären jugoslawischen Präsidenten Vojislaw Kostunica dennoch folgen werden und ein Kreuz unter die Einheitsliste "Povratak" - zu deutsch "Rückkehr" - machen werden, ist eine der wenigen spannenden Unbekannten dieser Wahl.
Sollten nahezu alle 178.000 Serben, die sich als Wahlberechtigte registrieren ließen (nach Belgrader Schätzungen sind dies 80 bis 85 Prozent der tatsächlich Wahlberechtigten), am Samstag tatsächlich ihre Stimme abgeben, hat das aus 19 Parteien und Bürgerverbänden bestehende Povratak-Bündnis (in ihm sind alle Parteien des serbischen Regierungsbündnisses DOS vertreten) im besten Fall sogar Chancen, mit 24 Mandaten zweitstärkste Partei zu werden. Grund ist das minderheiten-freundliche Wahlsystem, das den knapp über 10 Prozent Serben a priori 10 Sitze sichert.
Doch trotz dieses Anreizes und der Tatsache, dass die UNO den Kosovo-Serben vor zwei Wochen in einem Abkommen bessere Lebensbedingungen, mehr Sicherheit, eine Aufklärung des Verbleibs von 1.300 vermissten Kosovo-Serben und die Souveränität Jugoslawiens zugesichert hat, gilt eine rege Teilnahme an der Wahl wegen der heftigen Protestbekundungen der Nationalisten als unwahrscheinlich.
In der Serben-Enklave Priluzje, wo die Sozialisten von Ex-Präsident Milosevic den politischen Mainstream bestimmen, und in Zvecan, einem Vorort der geteilten Stadt Kosovska Mitrovica, mussten Führer der Povratak-Liste am vergangenen Wochenende ihre Wahlbeteiligungs-Kampagne nach Buh-Rufen abblasen. In Pristina, immerhin Kosovos Hauptstadt, beschränkte sich nach Agenturberichten die Wahlkundgebung auf das einzige Wohnhaus, in dem serbische Familien unter dem Schutz der KFOR-Truppen leben.
Gähnende Leere
Auf albanischer Seite sieht die ganze Sache einfacher aus. Die Wahlbeteiligung gilt nicht als geringeres Übel, sondern als Um und Auf im Erklimmen staatlicher Unabhängigkeit. Die Zeit, so sind die Albaner überzeugt, arbeitet ohnehin für sie. Die drei gewichtigen Parteien, die LDK Ibrahim Rugovas, Hashim Thacis PDK und die AAK des aufsteigenden Newcomers Ramush Haradinaj unterscheiden sich lediglich im Nachdruck, den sie in dieser Frage an den Tag legen. Andere Wahlkampfthemen als das Los-von-Belgrad hatten auch sie nicht zu bieten.
Klarer Favorit bei dem Urnengang ist Rugova. Der Literaturprofessor mit dem obligatorischen Seidenschal, der sich um das Präsidentenamt bewirbt, kommt bei Umfragen auf bis zu 60 Prozent der Stimmen, bei den Kommunalwahlen im Oktober des Vorjahres fuhr er 57 Prozent ein. Die Albaner schätzen vor allem seine zurückhaltende Art. Nach all den Jahren serbischer Unterdrückung, blutiger Konflikte und interner Machtkämpfe gilt die Symbolfigur des gewaltfreien Widerstandes als Rettungsanker. Anders als die einstigen UCK-Schergen Thaci und Haradinaj, deren Verstrickung in mafiöse Umtriebe und politische Morde als offenes Geheimnis gilt, hat Rugova eine unspektakuläre, aber integre Vergangenheit. Sein "Nona"-Wahlslogan: "Demokratie - Frieden - Wohlstand - Unabhängigkeit - Freiheit".
Die Ikone
Die renommierte Kosovo-Expertin und Herausgeberin der Zeitschrift "Balkan - Südosteuropäischer Dialog", Christine von Kohl, beklagt die mangelnde politische Vision, die der "Ikone, die für den Frieden steht", anheim ist. Rugova ist ein "liebenswerter, freundlicher Mann ohne politischen Instinkt", der, nachdem einiger einer politischen Gefährten ermordet wurden, nur noch schlechte Berater um sich geschart habe. Vor knapp einem Jahr hatte der Terror Rugovas politischen Weggefährten Xhemail Mustafa getroffen. Vor fünf Wochen wurden einer seiner Leibwächter erschossen. In beiden Fällen werden die Hintermänner im Umfeld einstiger UCK-Granden vermutet, keiner der Morde wurde je aufgedeckt.
Mehr Besonnenheit als Thaci und Haradinaj legt Rugova auch in der ethnischen Frage an den Tag. Zwar hat er sein einstiges Konzept der "Parallelgesellschaft" von Albanern und Serben zugunsten eines unabhängigen Kosovo aufgegeben, anti-serbische Hasstiraden oder großalbanische Ambitionen zählen aber nicht zu seinem Repertoire. Anders als Thacis "Demokratische Partei Kosovas" und Haradinajs "Allianz für die Zukunft Kosovas" akzeptierte der LDK-Führer auch anstandslos das vor 14 Tagen zwischen Häkkerup und Belgrad unterzeichnete Abkommen, das den Kosovo-Serben den Verbleib der Krisenprovinz bei Jugoslawien zusichert. Allein der politische Wille als Argument genüge ja wohl, um zu zeigen, dass es keine Alternative zur Unabhängigkeit gibt, lautet das Motto. Kritiker bemängeln, die LDK spreche bereits von einem zukünftigen Staat, präsentiere aber keine Pläne, was nach den Wahlen geschehen solle.
"Der" Ex-Mann des Westens
Hashim Thaci ist die Galionsfigur der einstigen UCK-Kämpfer. Nach dem Abzug der Milosevic-Truppen vom Westen als "der" Mann in der kosovarischen Politszene hofiert, hat der 32-Jährige mittlerweile als nationalistischer Despot mit dubiosen Verbindungen zur Mafia auch international an Gesicht verloren. Er selbst geriert sich freilich als moderner Demokrat. Die PDK sei jung, dennoch habe sie "bereits zwei Workshops" abgehalten. "Diese innere Demokratie zeigt, welchen Respekt die Partei vor den Bürgern hat", meinte Thaci kürzlich allen Ernstes. Politisches Programm hat er keines, er will nur rasch und ohne große Umschweife die Unabhängigkeit. Zum unerforschten Umfeld Thacis, so sagt man, zählen Drogenschmuggler und Waffenhändler. Einer von Thacis Brüdern soll wegen Drogenhandels bereits in Haft gesessen haben, auf Intervention eines hohen UNMIK-Beamten aber wieder freigekommen sein. Ebenfalls nicht erforscht ist die Rolle von Thacis Ex-UCK bei den Aufständen albanischer Rebellen in Mazedonien und Südserbien.
Der 33-Jährige hatte während der serbischen Schreckensherrschaft im Schweizer Exil gelebt, wie viele albanische Flüchtlinge. Die meisten, die in den Westen flüchteten, wurden dort nie anerkannt und in ihre Heimat zurückgeschickt, wo Milosevic sie verhaften ließ. Diese "Desperados aus dem Westen" hätten keinen guten Eindruck von der westlichen Welt mitgebracht, ihr tiefes Misstrauen rühre aus dieser Zeit, meint Christine von Kohl. Bei der Parlamentswahl wird Thaci ein Stimmenanteil bis zu 30 Prozent vorausgesagt. Die von ihm gegründete UCK-Nachfolgepartei PDK war mit 27,3 Prozent der Stimmen schon bei den Kommunalwahlen im Vorjahr zweitstärkste Kraft nach der LDK.
Der ewig zweite Haudegen
Auch Ramush Haradinaj, ein Jahr älter als Thaci, verbrachte einen Teil seiner Jugend im Schweizer Exil und kehrte erst Ende der Neunzigerjahre als UCK-Kämpfer in das Kosovo zurück. Nach dem Kosovo-Krieg schaffte er es an der Seite Thacis bis zum Vize-Kommandanten des Kosovo-Schutzkorps, einer leicht bewaffneten Polizeieinheit, die sich aus ehemaligen UCK-Kämpfern rekrutiert.
Im Sommer des Vorjahres folgte der Bruch. Weil sich Thaci als Alleinerbe der UCK gebärte, trat Haradinaj aus dem Schutzkorps aus und gründete seine eigene "Allianz für die Zukunft Kosovas". Nach außen fuhr die AAK zuletzt einen betont realistischen Kurs bezüglich einer künftigen Perspektive von Unabhängigkeit, doch ebenso wie Thaci gilt auch Haradinaj als politisch-nationalistischer Haudege im Designer-Tarnanzug. Einmal wurde er von russischen KFOR-Soldaten verhaftet, weil er ein Schweizer Sturmgewehr mit sich trug. In Folge gerieten russische Soldaten des öfteren unter Beschuss von Unbekannten. Als er bei einem anderen Feuergefecht schwer verletzt wurde, flog ihn die KFOR nach Deutschland zur Behandlung aus. Sein Bruder Daud steht auf einer US-Liste mazedonischer UCK-Terroristen.
Bei den Kommunalwahlen im Oktober des Vorjahres gaben ihm nur auf 7,7 Prozent der Albaner (die Serben hatten die Wahlen boykottiert) ihre Stimme, diesmal werden ihm knapp 10 Prozent prophezeit.