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Madrider Bewegung lieferte den Anstoß. | "Schweigende Mehrheit" geht erstmals auf Straße. | Bevölkerung schätzt IWF- und EU-Mission als Kontrollinstanz der Politik. | Madrid/Athen. Eine witzig verpackte Provokation sorgte für den nötigen Ruck: "Pssst! Seid ruhig, sonst weckt ihr die Griechen auf" stand auf einem Plakat in Madrid. Am 15. Mai war dort spontan die Protestbewegung "Echte Demokratie, jetzt!" entstanden. Seither harren Tausende im Zeltlager auf dem Puerta-de-Sol-Platz mitten in Spaniens Hauptstadt aus, um gegen die Arbeitslosigkeit und Sparpolitik anzuschreien.
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Der Weckruf in Richtung Athen war laut genug: "Wir sind wach!", gaben Demonstranten ihren spanischen Kollegen zur Antwort. Seit neun Tagen halten Tausende allabendlich den Platz der Verfassung (Syntagma) vor dem Parlament besetzt. "Diebe, Diebe", rufen sie den Politikern entgegen. Vergangenes Wochenende war der Funke auf Städte wie Saloniki und Iraklio übergesprungen. In Summe waren mehr als 100.000 Griechen auf der Straße.
Protest quer durch Schichten
"Das Protestbild hat sich in den vergangenen 16 Monaten sehr verändert", erklärt Jens Bastian von der Athener Denkfabrik Eliamep im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Der deutsche Ökonom lebt und arbeitet seit 15 Jahren in Griechenland. Er beobachtet, dass es für die Gewerkschaften immer schwieriger wird, Menschen zu mobilisieren: 2010 gab es sieben Generalstreiks, heuer bereits zwei - Erfolge seien ausgeblieben.
Hingegen versammle sich nun auf dem Syntagma-Platz die bisherige "schweigende Mehrheit", so Bastian. Der Protest gehe quer durch alle Schichten: "Ich sehe erstmals viele Familien. Daneben ältere Menschen, gerade auch aus gutbürgerlichen Wohngegenden, die vielleicht aus einer Ausstellung kommen und eine Stunde verweilen. Ebenso sind viele junge Menschen darunter, die aber den Protest nicht für ihre Zwecke vereinnahmen." Wie in Spanien organisiert sich der Protest über moderne Kommunikationsformen wie Facebook, Twitter oder SMS.
Von Parteien oder Gewerkschaften wollen sich die Demonstranten nicht instrumentalisieren lassen: "Gerade die Autonomie des Protestes ist beeindruckend. Die Menschen haben nicht nur von der politischen Elite die Nase voll, sondern auch von Protestkadern, die nichts erreicht haben."
Politische Agenda noch vage
Die Forderungen der Demonstranten, die sich als "Empörte Bürger" bezeichnen, bleiben vorerst im Nebel. Eine gemeinsame Parole gibt es nicht, außer: "Weg mit euch!" Vage sei die Forderung nach einem Referendum über die Sparpolitik zu erkennen.
Natürlich sind die Proteste vom Frust über die Sparzwänge getrieben, die - ohne absehbares Ende - immer weiter verschärft werden. Die Wirtschaftskrise trifft im dritten Jahr viele Menschen aus der Mittelschicht, die sich dagegen eigentlich immun wähnten.
Anders als viele Kommentatoren den Griechen unterstellen, sehen diese ihre Lage aber recht nüchtern und realistisch, sagt Bastian: Er habe keine Plakate gesehen, die den Internationalen Währungsfonds (IWF) auffordern würden, das Land zu verlassen. Diese Forderung sei nur vereinzelt von Oppositionsparteien oder aus der Gewerkschaft zu hören. "In der Bevölkerung setzt sich hingegen die Sicht durch, dass die Troika aus IWF, Europäischer Kommission und Zentralbank die beste Chance ist, die Griechenland hat - vielleicht auch die letzte." Schließlich bringe diese Kontrollinstanz jene Transparenz, die bisher gefehlt hat: "Die Bevölkerung ist sicher, dass nicht mehr gelogen und nichts mehr verheimlicht werden kann."
Erstmals Gewaltausbrüche
Die Zustimmung für den sozialistischen Premier Giorgos Papandreou sei gesunken, aber nicht dramatisch eingebrochen. Eine Hinwendung zur konservativen Opposition erkenne er schon gar nicht, sagt Bastian: Vielmehr hätten die Menschen die tiefe Kluft zwischen den Parteien satt - sie wollen endlich einen ernsthaften Schulterschluss sehen.
Für böses Blut sorgen die ständigen Belehrungen aus Nordeuropa. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel hatte die Griechen jüngst als Urlaubs- und Frühpensions-Weltmeister hingestellt. "Ich würde keine einzige dieser Stereotypen unterschreiben", sagt Bastian. "Viele Griechen sagen: Wir wissen, wie es um unser Land steht. Wir haben die Hausaufgaben in Angriff genommen. Aber wir wollen nicht in dieser Form beleidigt werden."
Am Donnerstag drohten die friedlichen Proteste erstmals zu kippen: Auf der Insel Korfu bewarfen aufgebrachte Bürger Parlamentsabgeordnete mit Steinen. Die Mandatare hatten an einem Abendessen im Hafen teilgenommen. Schon am Vorabend hatten Demonstranten in Athen Abgeordnete bespuckt, die das Parlamentsgebäude verließen.
Vollständiges Interview mit Jens Bastian