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Russlands Belagerungstaktik wurde schon im Krieg gegen die abtrünnige Kaukasusrepublik Tschetschenien eingesetzt.
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Nun gibt es die Hauptstadt von Tschetschenien also auch in Verbform. Boris Johnson sagte in einem Interview mit der BBC, dass Wladimir Putin seiner Meinung nach entschlossen sei, die Städte der Ukraine zu "Grosnyfizieren".
Grosny, die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, war im Jahr 2000 nach Jahren des Krieges völlig zerstört. 1991 - kurz nach dem Kollaps der Sowjetunion - hat sich Tschetschenien für unabhängig erklärt, doch die russische Regierung von Präsident Boris Jelzin war nicht bereit, die Unabhängigkeit Tschetscheniens hinzunehmen, und marschierte schließlich im Jahr 1994 ein. Ein jahrelanger und blutiger Sezessionskrieg war die Folge. Die russische Armee beschoss Grosny mit Raketen und Artillerie, es regnete Bomben auf die tschetschenische Hauptstadt. Danach war Grosny eine Stadt in Trümmern.

Ich selbst berichtete 1999 aus der Stadt, in der es keinen Strom, kein Wasser und kein Telefon gab und in der die Menschen auf Holzlagerfeuern auf den Straßen oder in ihren Wohnungen kochten. Die meisten Frauen und Kinder waren geflohen, zurückgeblieben waren russische Pensionisten, die keine Familien hatten, zu denen sie flüchten konnten. Der Krieg wurde immer grausamer, immer brutaler geführt: Menschen wurden entführt, ermordet, viele verschwanden einfach. Zigtausende flohen in die benachbarten autonomen Republiken der Russischen Föderation, Inguschetien und Dagestan. Viele wollten aber nach Georgien und von dort weiter in die Europäische Union.
Erst im Jahr 2000 erlangte Moskau unter Präsident Wladimir Putin die Kontrolle über Grosny zurück: Putin landete im März 2000 höchstpersönlich an Bord eines Suchoi Su-27-Kampfjets am Flughafen der Stadt. Mit dieser aufsehenerregenden Aktion wollte der erst ein paar Monate im Amt befindliche Präsident Stärke zeigen.
Eine perverse Situation: russische Soldaten beschossen jahrelang eine Stadt, in der viele ethnische Russen lebten. Die Parallelen zum Krieg in der Ukraine sind augenfällig: Die russischsprachigen Ukrainer im Osten und Süden des Landes und im Norden und Nordosten der Hauptstadt Kiew sind derzeit die Hauptleidtragenden von Putins Krieg.
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Tschetschenien ist heute nichts anderes als ein Mafiastaat in der Hand von Ramsan Kadyrow. Kadyrow ist ein treuer Vasall Wladimir Putins, er gilt als Drahtzieher des Mordes an Russlands damals bekanntesten und aussichtsreichsten Oppositionspolitikers Boris Nemtsow, der auf einer Brücke direkt vor dem Kreml erschossen worden war. Eine Woche nach dem Mord erhielt Kadyrow einen Orden von Putin, nun sollen Kadyrows Milizen im Krieg gegen die Ukraine eine wichtige Rolle spielen.

Wiederholt sich die Geschichte?
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Dieses Zitat Mark Twain zuzuschreiben ist zwar falsch (die Urheberin oder der Urheber des cleveren Witzes ist unbekannt), der Inhalt dieses geistreichen Satzes ist aber nichtsdestotrotz richtig.
Mariupol, Irpin, Butscha, Kharkiw - alles Städte, die derzeit von Putins Armee grosnyfiziert wurden oder werden.
Der österreichische Militärexperte Gustav Gressel - er arbeitet am European Council on Foreign Relations - beschrieb in einem Interview mit dem deutschen Nachrichtensender n-tv die Strategie des Kreml in Bezug auf Mariupol: Der Gegner solle zermürbt und erniedrigt werden, es solle der Eindruck erweckt werden, dass die Verteidiger ihre Bürgerinnen und Bürger nicht schützen können. Dazu würden auch gezielte Angriffe auf Krankenhäuser und Schulen gehören. Gressel verweist in dem n-tv-Gespräch darauf, dass solche Methoden auch in Syrien angewandt worden seien. Tatsächlich: Im Krieg gegen die Arabellion in Syrien stand Moskau Seite an Seite mit dem syrischen Machthaber Bashar al-Assad, die russischen Luftstreitkräfte spielten bei den Angriffen auf die Rebellenhochburg Aleppo eine wichtige Rolle. Dem Kreml ging es in diesem Krieg darum, den russischen Stützpunkt in Tartus am Mittelmeer zu schützen und Russlands Position im Nahen Osten und im Mittelmeerraum abzusichern.
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Iman Khaled Aboud, eine 40-jährige Witwe aus Aleppo wurde vor etwas mehr als zwei Wochen von der US-Nachrichtenagentur Associated Press über ihre Erfahrungen bei der Belagerung von Aleppo befragt. Sie sagte, sie habe einen Ratschlag für die Bewohner von Mariupol: "Legen sie Lebensmittelvorräte an."
Die Lektionen, die Putins Armee in Aleppo - und davor in Grosny - gelernt hat, werden nun in Mariupol angewandt.
Mariupol, die strategisch wichtige Hafenstadt am Asowschen Meer, hat für Putin aber auch symbolische Bedeutung: Mariupol ist eine Kiew-treue Frontstadt in der Ostukraine und dient seit der Abspaltung von Donezk durch pro-russische Separatisten im Jahr 2014 als neues Verwaltungszentrum. Mariupol ist auch als Basis des Asow Regiments bekannt - eine von Rechtsradikalen gegründete Freiwilligenmiliz, die der Kreml in seiner Propaganda zum Hauptfeind in der Region hochstilisiert, um das Narrativ von "Nazis" in der Ukraine zu bedienen.
Mariupol wird seit 1. März von der russischen Armee belagert, es gibt in der Stadt, die einst rund 430.000 Bewohner zählte, laut Auskunft von lokalen Behörden bereits tausende Tote zu beklagen. Rund 90 Prozent der Gebäude sollen zerstört sein. Olga Pikula, sie ist Gemeinderätin von Mariupol, ist nach Lwiw (Lemberg) geflüchtet und erzählte dort im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" von "unvorstellbaren Zerstörungen, wie in einem Katastrophenfilm, einem Horrorfilm".
Tod, Hunger, Kälte - bei Kapitulation hört das auf
Das Bombardement auf das Theater in Mariupol, bei dem nach Angaben der örtlichen Behörden rund 300 Menschen ihr Leben verloren haben, verfolgte keinerlei erkennbares militärisches Ziel. Die Bewohner von Mariupol haben eine Grünfläche vor und hinter dem Theater klar mit den Worten "Deti (Russisch: Kinder) markiert, um russische Kampfjets darauf hinzuweisen, dass sich im Theater Kinder und Zivilisten befinden. Bombardiert wurde es trotzdem.
"Ich hoffe, dass niemand sehen muss, was ich gesehen habe", sagte der griechische Generalkonsul Manolis Androulakis nach seiner Flucht aus Mariupol in Athen gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: "Mariupol steht nun auf einer Liste der Städte, die im Krieg komplett zerstört wurden - genauso wie Guernica, Coventry, Aleppo, Grozny und Leningrad".

Guernica wurde im April 1937 von Adolf Hitlers Nazi-Fliegern der "Legion Condor" und von Benito Mussolinis "Aviazione Legionaria" völlig zerstört, Coventry im November 1940 von der Nazideutschen Luftwaffe in Trümmer gelegt, Leningrad (heute St. Petersburg) wurde von der nazideutschen Wehrmacht von 8. September 1941 bis zum 27. Jänner 1944 ganze 28 Monate belagert. Rund 1,1 Millionen Menschen starben, die meisten durch Hunger. Finnische Truppen waren bei diesem Kriegsverbrechen als Komplizen beteiligt.
Als Wladimir Putin dort 1952 zur Welt kam, waren erst acht Jahre seit der Belagerung Leningrads vergangen, Putins Eltern, Maria und Wladimir sen. haben die Blockade überlebt, wenn auch schwer gezeichnet - Wladimir Putins Vater klagte wegen einer Kriegsverletzung ständig über Schmerzen, Putins Mutter soll nach Kriegsende so schwach gewesen sein, dass sie kaum mehr gehen konnte, wie Masha Gessen, Autorin der 2012 erschienen, kritischen Putin-Biografie "Der Mann ohne Gesicht: Wladimir Putin. Eine Enthüllung" schreibt. Putins Bruder Viktor (geb. 1940) war im Jahr 1942 während der Belagerung Leningrads an Diphtherie gestorben.
2022, achtzig Jahre nach dem Beginn der Belagerung von Leningrad, werden nun auf Wladimir Putins Befehl hin ukrainische Städte belagert.
Die Belagerungstaktik ist so alt wie die Kriegsführung selbst: Den russischen Streitkräften geht es darum, den Willen der Verteidiger zu brechen. Unter dem Joch des Kremls zu leben soll den belagerten Ukrainern als das geringere Übel erscheinen, als weiter den russischen Artilleriebeschuss und die russischen Bombardements mit Granaten und Raketen erdulden zu müssen. Tod, Hunger, Kälte und Durst - all das hätte ein Ende, wenn - ja, wenn - die Belagerten die weiße Fahne hissen und sich ergeben würden.
Doch die Gräuel von Putins Armee erreichen im Moment das Gegenteil: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj versuchte am Dienstag mit einer Videobotschaft an den UN-Sicherheitsrat, die Welt angesichts des jüngsten Massakers von Butscha aufzurütteln. Die USA und die EU suchen Mittel und Wege, um Putin weiter zu schwächen.