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Die große Angst vor dem Peel-Moment

Von Ronald Schönhuber

Politik
Sir Robert Peel, konservativer Premier bis 1846, wird als Schuldiger der Parteispaltung ausgemacht.
© Archiv

Nach dem Streit um die Corn Laws 1846 spaltete sich die konservative Partei. Dieses Trauma wirkt bis heute nach. Die Einheit der Partei zu erhalten, ist daher bis heute das zentrale Ziel jedes Tory-Chefs - selbst wenn der Preis dafür ideologische Beliebigkeit ist.


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London/Wien. Wenn Theresa May, die derzeit um ihr politisches Überleben kämpfende britische Premierministerin, etwas trösten mag, ist es wohl der Blick in die Vergangenheit. Denn das Amt des Tory-Vorsitzenden war schon ein Schleudersitz, lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Von den 21 Parteichefs, die die Konservativen seit dem Jahr 1834 anführten, waren mit Lord Salisbury (1902) und Stanley Baldwin (1937) nur zwei aus freien Stücken zurückgetreten. Alle anderen wurden entweder von den Wählern aus dem Amt gejagt, von den eigenen Parteifreunden entmachtet oder sie mussten ihrer angeschlagenen Gesundheit letztlich doch Tribut zollen.

Besonders schnell ging es bei den Tories, die die Absetzung eines Parteichefs seit jeher als die natürlichste Sache der Welt betrachtet haben, vor allem dann, wenn es plötzlich Zweifel daran gab, dass der Mann oder die Frau an der Spitze noch weiterhin den Zusammenhalt der Partei gewährleisten kann und plötzlich ein neuer Vereiner gefunden werden musste. So wurde Margaret Thatcher, die die Geschicke der Partei knapp 15 Jahre bestimmt hat, im November 1990 im Eiltempo durch John Major ersetzt. Ähnlich rasch wurde auch May selbst auf den Schild gehoben. Nur drei Wochen, nachdem David Cameron wegen des verlorenen Brexit-Referendums seinen Rücktritt erklärt hatte, wurde die damalige Innenministerin zur neuen Parteichefin und Premierministerin bestimmt.

Nur kein zweiter Peel

Dass May sich vor der Volksabstimmung noch für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU ausgesprochen hatte, spielte bei ihrer Blitzkür keine Rolle. Viel wichtiger war, dass sie nun versprach, den Wunsch des Volkes nach einem Austritt zu respektieren und damit die Einheit der Partei wiederherstellte. Denn nichts hat die Tories in den vergangenen 170 Jahren so stark geprägt wie die traumatische Trennungserfahrung des Jahres 1846.

Damals hatten sich die Konservativen, die fünf Jahre zuvor unter Sir Robert Peel eine entscheidende Mehrheit im Unterhaus gewonnen hatten, über die protektionistischen Corn Laws entzweit. Die Großgrundbesitzer und der Landadel wollten die Zölle auf Agrarprodukte aus wirtschaftlichem Eigeninteresse unbedingt beibehalten und hatten mit dem späteren Premierminister Benjamin Disraeli einen einflussreichen Fürsprecher in der Partei gefunden. Peel trat angesichts der verheerenden Ernteausfälle in Irland und der sich abzeichnenden Hungersnot dagegen für eine Abschaffung der protektionistischen Maßnahmen ein, mit denen die Preise künstlich hochgehalten wurden.

Mit Hilfe der oppositionellen Whigs konnte sich Peel zwar durchsetzen, doch der Konflikt kostete ihn sein Amt sowohl als Premier wie auch als Tory-Chef. Einen hohen Preis musste aber auch die Partei selbst zahlen. Die Konservativen konnten in den darauffolgenden 20 Jahren keine einzige Unterhaus-Wahl mehr gewinnen und mussten auch personell einen enormen Aderlass hinnehmen. Bei der auf den Streit folgenden Parteispaltung liefen zahlreiche Gefolgsleute und Sympathisanten Peels zur neugegründeten Liberalen Partei über.

So etwas sollte und durfte nie wieder passieren. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten bemühten sich die Konservativen mit aller Macht darum, die Einheit der Partei zu erhalten und das Schreckgespenst der Spaltung zu verjagen. Als Lord Salisburys Neffe Arthur Balfour zu Beginn des 20. Jahrhunderts wegen eines Konflikts zwischen Freihandelsbefürwortern und Zollreformern vor einer ähnlich schwierigen Zerreißprobe stand, erklärte er öffentlich, er werde auf keinen Fall "ein zweiter Robert Peel" werden.

Noch weiter ging Balfours Nachfolger Bonar Law, nachdem sich die Konservativen 1922 entschieden hatten, die Koalition mit den Liberalen zu verlassen. "Ich gestehe freimütig, dass es angesichts der Krise vor unseren Augen wichtiger ist, die Einheit unserer Partei zu erhalten, als die nächsten Wahlen zu gewinnen", sagte Law damals vor seinen im Carlton Club versammelten Anhängern.

Selbst in der jüngeren Vergangenheit gehören die steten Verweise auf die Tragödie des Jahres 1846 zum fixen Instrumentarium der Partei. Rab Butler, der in den 1950ern danach strebte, Parteichef zu werden, bezeichnete die Spaltung als die "unvergesslichste Lektion unserer Geschichte", in den 1990er Jahren bemühte John Major vor seinen Parteifreunden immer wieder das mit Robert Peel aufgeladene Spaltungs-Menetekel. "Bei den Konservativen ist die Trennung nie vergessen worden", schreibt der britische Journalist Andrew Gimson in seiner weitsichtigen Analyse zur Geschichte der Tories im "Statesman".

Stete Häutung einer Partei

Die unbedingte Suche nach Geschlossenheit macht die Tories nach Gimsons Ansicht allerdings zu einer Partei der politischen Beliebigkeit. So arbeiten die Tories mit dem Brexit derzeit am Abbruch jenes Hauses, das sie einst selbst gebaut haben. Denn in den frühen 1970er Jahren war es der konservative Premierminister Edward Heath gewesen, der Großbritannien mit großem Einsatz in die damalige Europäische Gemeinschaft geführt hat. Und noch in den 1990er Jahren konnte es sich John Major leisten, die EU-Gegner in den eigenen Reihen als "Bastarde" zu bezeichnen.

Ähnlich gehäutet haben sich die Tories in den vergangenen drei Jahrzehnten in wirtschaftspolitischer Hinsicht. Unter Thatcher, die die Gewerkschaften entmachtete und eine Kohlegrube nach der anderen schließen ließ, galt Großbritannien als Inbegriff des Neoliberalismus. May setzte dagegen vor den letzten Parlamentswahlen ein ganz klares Zeichen in Richtung Arbeiterschaft. Mit mehr Möglichkeiten zur Pflegefreistellung und Umschulungsangeboten sollte all jenen Schlechtergestellten ein Angebot gemacht werden, die das Brexit-Votum vor allem als Ventil für ihren Unmut genutzt hatten.

Aus Gimsons Sicht ist diese Flexibilität aber nicht notwendigerweise schlecht. Konservativ sei, was funktioniert, schreibt Gimson sinngemäß. Die Partei würde dadurch vermeiden, in ideologischen Sackgassen steckenzubleiben. William Harcourt, ehemaliger Parteichef der Liberalen, würde das allerdings wohl ganz anders sehen. "Die Konservativen haben sich noch nie einer Sache angenommen, ohne am Ende Verrat an ihr zu begehen", sagte Harcourt bereits Ende des 19. Jahrhunderts.