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Die große Angst vor der harten Landung

Von Ronald Schönhuber und Veronika Eschbacher

Wirtschaft

Nach dem Börsenbeben im Sommer stürzen die Aktienmärkte in China erneut ab. Verantwortlich für | den Crash dürften diesmal aber nicht zockende Kleinanleger sein, sondern die Sorge über die enormen wirtschaftlichen Probleme.


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Peking/Wien. Monatelang hatte es an den europäischen Börsen eigentlich nur ein Thema gegeben. Jede Äußerung, die einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone wahrscheinlicher erscheinen ließ, sorgte für fast schon panikartige Abverkäufe an den Märkten. Jeder Hinweis darauf, dass es in letzter Minute doch noch zu einer Einigung zwischen den Gläubigern und dem ewigen Euro-Sorgenkind kommen könnte, wurde dagegen euphorisch gefeiert. Nichts anderes schien die entlang der Grexit-Debatte verlaufende Fieberkurve beeinflussen zu können. Bis der Juli kam - und das kleine Griechenland im Vergleich zum gewaltigen China auf einmal gar nicht mehr so bedrohlich aussah.

Denn während alle gebannt nach Athen geblickt hatten, hatte sich in der Volksrepublik zunächst fast unbemerkt ein Börsensturm noch viel gewaltigeren Ausmaßes zusammengebraut. Von Mitte Juni weg waren die Kurse an den Handelsplätzen Shanghai und Shenzhen nach unten gerauscht, nach drei Wochen notierte der Shanghai Composite Index bereits um 30 Prozent tiefer. Als Brandbeschleuniger hatten damals vor allem die Privatanleger fungiert, die in China rund 85 Prozent aller Transaktionen tätigen. Sie hatten die Kurse in den Monaten zuvor mit Hilfe des so genannten "Margin Lending" stark nach oben getrieben. Bei dieser Anlagestrategie werden mit geliehenem Geld Hebelprodukte gekauft, die es ermöglichen, mit geringen Beträgen große Aktienvolumen zu bewegen. Allerdings wirkt der Hebel in beide Richtungen: Wenn die riskante Wette auf Pump nicht so aufgeht wie geplant, sind auch die Verluste überproportional hoch.

Doch die Millionen Kleinanleger, die hemmungslos im Börsen-Casino zocken, dürften viel eher ein Symptom der chinesischen Probleme sein als die Ursache. Denn weder die Einführung deutlich strengerer Regeln für den Wertpapierhandel noch die massiven Stützungskäufe seitens der chinesischen Zentralbank oder die mehrfache Abwertung der Landeswährung Yuan haben die chinesischen Aktienmärkte in den vergangenen fünf Monaten nachhaltig beruhigen können. Nachdem es Anfang September innerhalb weniger Tage neuerlich um fast 30 Prozent nach unten gegangen war, dürfte nun ein ähnlicher Crash möglicherweise nur durch die automatische Aussetzung des Handels verhindert worden sein. Der Stopp-Mechanismus, der am Montag nach einem Absturz von sieben Prozent erstmals ausgelöst wurde, gehört zu einem ganzen Bündel von Maßnahmen, die die chinesischen Behörden nach den Turbulenzen des Sommers eingeführt haben.

Eine schwarze Serie

Ins Rutschen hatten die Kurse am Montag unter anderem die schwachen Daten aus der chinesischen Industrie gebracht, wo die Produktion im Dezember einmal mehr geschrumpft war. "Wir beobachten schon länger, dass der Industriezweig in China deutlich an Schwung verloren hat", sagt Carsten Brzeski, der Chef-Volkswirt der niederländischen Bank ING-DiBa zur "Wiener Zeitung". Nach einer ganzen Serie von Hiobsbotschaften aus anderen Sektoren war das dringend erhoffte Signal auf eine konjunkturelle Stabilisierung damit einmal mehr ausgeblieben. Auch die Ausfuhren waren im November schon den fünften Monat in Folge gesunken und mit 6,8 Prozent war das Minus deutlich größer ausgefallen als erwartet. Noch stärker war das Minus mit 8,7 Prozent bei den Importen.

Damit dürfte es wohl sehr schwer werden, das offizielle Ziel von sieben Prozent Wachstum in diesem Jahr zu erreichen. Experten gehen angesichts der jüngsten Daten schon davon aus, dass es 2015 möglicherweise nur für 6,5 Prozent reicht. Selbst hohe Parteifunktionäre räumen hinter vorgehaltener Hand ein, dass sich das Land gerade in einer sehr schwierigen Phase befindet.

Dass die ehemalige Konjunkturlokomotive der Weltwirtschaft, die jahrelang mit Wachstumsraten von mehr als zehn Prozent glänzte, stetig an Fahrt verliert, hat aber nicht nur mit der sinkenden Kauflaune in den wichtigsten Exportabsatzmärkten wie etwa den Ländern der Europäischen Union zu tun. Viel mehr noch spürt China die Geburtsschmerzen beim von der Kommunistischen Partei verordneten Übergang von der exportorientierten globalen Werkbank hin zur einer mehr auf Nachhaltigkeit abzielenden Binnenwirtschaft.

Mehr Konsum

Dass es ohne diese Transformation, die stark vom Konsum und Dienstleistungssektor getragen werden soll, nicht gehen wird, ist unter Experten unbestritten. "Schon seit Jahren ist klar, dass das Wachstumsmodell, das erst auf Exporten und dann auf staatlichen Investitionen basiert hat, nicht mehr möglich ist", sagt Leopold Quell, Senior Fonds Manager bei Raiffeisen Capital Management, zur "Wiener Zeitung". Für die eigenständige Entwicklung neuer hochtechnologischer Produkte fehlt es laut in China tätigen ausländischen Managern aber oft noch an entsprechend gut ausgebildeten Leuten. Gleichzeitig sind die Gehälter in bestimmten Branchen, etwa in der Kleidungs- und Schuhindustrie, vielen Konzernen schon zu teuer geworden. Sie ziehen nun dorthin weiter, wo das Lohnniveau niedriger ist, etwa nach Vietnam.

Entscheidend dürfte daher sein, wie sich das gedrosselte Wachstum auf den Arbeitsmarkt auswirken wird: Jahrelang galt schließlich das Mantra, China dürfe seine hohe Wachstumsrate nicht unterschreiten, um die 1,3-Milliardenbevölkerung ausreichend zu beschäftigen. Alleine sieben Millionen Chinesen schließen jedes Jahr ihr Studium ab, und lange Zeit galten 8 Prozent als Untergrenze für eine ausreichende Beschäftigung. Welch explosives Potenzial im Arbeitsmarkt liegt, zeigt sich bereits jetzt am anderen Ende der sozialen Leiter. Immer öfter revoltieren ausgebeutete Wanderarbeiter, gleichzeitig wird in den Sweatshops der Ballungsräume für bessere Arbeitsbedingungen gekämpft.

Doch auch anderswo nehmen die Konflikte zu. Vor allem die die Industrialisierung begleitenden Umweltprobleme sorgen bei vielen Bürgern für Zorn: Vielerorts sind die Flüsse vergiftet, in den großen Städten ist aufgrund des dichten Smogs oft wochenlang die Sonne nicht zu sehen.

Ganz ähnlich wie die anderen Schwellenländer kämpft China aber auch mit Herausforderungen, die es nur bedingt beeinflussen kann. Im Gegensatz zu Russland oder Brasilien ist die Volksrepublik zwar weniger stark von den dramatisch gesunkenen Rohstoffpreisen abhängig, doch auch China ist massiv in Dollar verschuldet. Wenn die US-Notenbank nach der Mitte Dezember erfolgten Zinswende nun die Leitzinsen weiter rasch anhebt, würde dies den Dollar deutlich stärken. Und mit einer starken US-Währung würde die Schuldenlast der Schwellenländer explodieren.

Aber auch Privatunternehmen wären betroffen. Firmen in China halten Schätzungen zufolge ein Viertel ihrer Unternehmenskredite in Dollar, machen ihre Gewinne aber in Yuan. Am Montag markierte die chinesische Währung mit 6,5365 Yuan zum Dollar bereits den niedrigsten Stand seit fast fünf Jahren. Zudem droht auch der Abzug ausländischen Kapitals, wenn in den USA die Zinsen steigen und Anlagerenditen dort sicherer zu erzielen sind. Laut einer Studie wurden allein im laufenden Jahr schon mehr als 500 Milliarden Dollar aus China abgezogen. Noch nie zuvor in der Geschichte hatten Investoren so viel Geld außer Landes gebracht.

Hoffnungsschimmer

Der starke Dollar könnte China in anderen Bereichen aber auch auf die Sprünge helfen. Denn wenn chinesische Produkte im Ausland wieder billiger werden, dürfte sich das relativ rasch auf die Exporte der Volksrepublik durchschlagen. Laut Brzeski gibt es zudem spürbare Zuwächse im Konsum und Dienstleistungsgewerbe, durch die Schlimmeres verhindert werde. "Wir müssen uns auf eine sanfte Landung einstellen, aber keinen großen Crash", glaubt der ING-DiBa-Chefökonom. Viele Experten erwarten zudem, dass die Notenbank in Peking an ihrer expansiven Geldpolitik festhält und die Regierung das Wachstum mit weiteren Konjunkturprogrammen ankurbelt.

Dass China trotz einiger wohl noch bevorstehender Turbulenzen das dominierende Thema an den Märkten im Jahr 2016 bleibt, glaubt Brzeski daher nicht. "Auch die US-Präsidentschaftswahlen, der niedrige Ölpreis und Terror im Allgemeinen werden die Börsen bewegen", meint der Volkswirt. Und vielleicht werde es sogar ein Comeback des Themas geben, das die erste Hälfte des Jahres 2015 beherrscht hat: "Es sieht so aus, als ob die Griechen ihr Bestes tun, um den Staffelstab von den Chinesen wieder zu übernehmen", sagt Brzeski mit einem Augenzwinkern.