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Die große Flut

Von Reinhard Göweil

Politik

Am Montag startet das 1140-Milliarden-Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank.


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Frankfurt/Brüssel. Am Montag startet die Europäische Zentralbank (EZB) also das große Anleihekaufprogramm, von den Finanz-Alchimisten "Quantitative Easing" genannt. Nun, eine Lockerung bedeutet es auf alle Fälle, eine gewaltige Lockerung sogar: 1140 Milliarden Euro "erfindet" die EZB neu und kauft damit Staatsanleihen. Sie will damit drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die Aufblähung der Geldmenge soll die Inflationsrate von derzeit null in Richtung zwei Prozent erhöhen. Das Geld soll in den Wirtschaftskreislauf gelangen, und - im Verein mit Kreditzinsen, die noch nie so niedrig waren - die Konjunktur ankurbeln. Und das plötzliche Überangebot an Euro soll die Gemeinschaftswährung im globalen Währungsgefüge billiger machen.

Das ist beeindruckend gelungen, der Euro stürzte zum Dollar auf 1,10 ab. Das hilft der europäischen Industrie im Export, da Lieferungen nach Asien und in die USA deutlich billiger geworden sind, obwohl beispielsweise Löhne in Europa steigen können. Umgekehrt heißt das natürlich, dass Importe teurer werden, was die Inflation in den 19 Euroländern in die Höhe treibt.

Das ist vorerst einmal beeindruckend schiefgegangen, da der (in US-Dollar notierte) Ölpreis von 100 auf 50 Dollar abstürzte. Praktisch alle Energiepreise werden international in Dollar gehandelt. Die jährlichen Energieimporte in die EU machen mehr als 400 Milliarden aus, die Euro-Abwertung hätte daraus 500 Milliarden gemacht.

Ölpreis drückt Inflation,aber hebt das Wachstum

Dies war nicht der Fall. Finanz-Experten gehen allerdings davon aus, dass die EZB dies in ihren Planungen hatte. Denn die Zentralbanken der Welt sind eng miteinander verknüpft. Mario Draghi und die jetzige Chefin der US-Notenbank Federal Reserve (Fed), Janet Yellen, treffen einander regelmäßig und sitzen gemeinsam in mehreren internationalen Gremien. Dass die Schiefergasförderung in den USA und dessen aggressiver Verkauf die Energiepreise drücken würde, muss Gegenstand ihrer Gespräche gewesen sein.

Jedenfalls wurde die Energierechnung trotz Euro-Verfall billiger statt teurer und drückte die ohnehin kaum noch sichtbare EU-Inflation knapp unter null. Beim Auto fahrenden Konsumenten kam dies europaweit als zweistellige Milliarden-Ersparnis an - eine vom Markt getriebene Steuersenkung quasi. Dies und die Nullzins-Politik führten (wie in der Freitag-Ausgabe der "Wiener Zeitung" berichtet) zur Erhöhung der Konjunkturprognose. Die EZB, die bisher heuer von einem Wirtschaftswachstum von 1 Prozent ausging, erwartet nun 1,5 Prozent, 2017 sollen es mehr als 2 Prozent werden.

Hinter den nüchternen Zahlen stecken - wie immer bei ökonomischen Daten - viele Einzelschicksale. 2,7 Millionen Arbeitslose in Europa sollen in den kommenden zwei Jahren einen Job finden. Wegen des starken Zustroms zum Arbeitsmarkt sollen insgesamt 4,4 Millionen Jobs entstehen.

Gefahr für die erhofften Segnungen der Geldschwemme droht indes - wieder einmal - von den 19 Euroländern beziehungsweise deren Zentralbanken. Denn von ihnen hängt es ab, ob das Volumen, das 60 Milliarden Euro monatlich umfasst und mindestens bis September 2016 läuft, tatsächlich zustande kommt. Vereinfacht gesagt wird die EZB für 80 Prozent der Summe die nationalen Zentralbanken beauftragen, die sich ihrerseits an die in den jeweiligen Ländern sesshaften Banken wenden. Sie sollen die Staatsanleihen an die EZB verkaufen. 20 Prozent kauft sie selber, also mit Haftung aller Länder, unter definierten Auflagen. Griechenland würde derzeit nicht darunter fallen, allerdings nur vorübergehend (siehe Artikel Seite 4).

Auf die Nationalbank in Österreich entfallen so zirka 1,5 Milliarden Euro. Ob heimische Banken allerdings bereit sind, Bundesanleihen in diesem Ausmaß zu verkaufen, wird in Bankkreisen bezweifelt. Das gilt im Wesentlichen für alle "stabilen" Euroländer, allen voran Deutschland. Es ist also durchaus denkbar, dass die Geldschwemme zwar ihre Wirkung entfaltet, aber real deutlich niedriger ausfällt.

Um das zu verstehen, ist es hilfreich, sich weniger vom Verstand als vielmehr vom Gefühl leiten zu lassen. Die EZB mag ihre Beschlüsse mit vielen Zahlen und Formeln beschreiben, doch dahinter stecken Erwartungen. Wenn alle glauben, dass etwas passiert, dann wird es auch geschehen, selbst wenn die Logik dagegen spricht. Geldpolitik hat generell weniger mit Fakten als vielmehr mit Glauben zu tun. Der ehemalige Jesuiten-Zögling Draghi, der dieses Spiel perfekt beherrscht, lieferte bereits ein Beispiel. Am 26. Juli 2012 erklärte er in einer Rede, dass "die EZB bereit ist zu tun, was immer nötig ist, um den Euro zu retten".

Während am 25. Juli noch alle Märkte verrücktspielten und nach dem damals taufrischen Griechenland-Rettungspaket Italien und Spanien als Pleite-Kandidaten handelten, war in den Tagen danach alles anders. Die Zinsaufschläge sanken, die erratischen Ausschläge am Euro-Anleihemarkt verebbten. Die betroffenen Länder waren immer noch genau so gut oder schlecht wie zuvor, doch die Finanzmärkte glaubten den Satz des gewieften Italieners. Ähnliches spielte sich nun bei der "quantitativen Lockerung" ab, die Draghi am 21. Jänner verkündete. Der Euro fiel sofort wie ein Stein, obwohl das Programm tatsächlich erst jetzt startet. Am Freitag gab der Euro nur noch leicht nach.

Was aber bedeutet der Euro-Verfall? Für 99 Prozent der Bürger direkt gar nichts. Sie erhalten den Lohn in Euro und zahlen ihre Rechnungen in Euro. Der Umrechnungskurs zu Dollar oder Pfund ist egal. In den USA beispielsweise ist der Euro-Dollar-Kurs in der Bevölkerung weitgehend unbekannt, aus denselben Gründen. Das generell stärker nach außen gerichtete Europa nimmt ihn stärker wahr, Franken-Kreditnehmer sogar hautnah.

Das beste Gegenargument der EZB-Politik ist laut Devisen-Analysten die Sorge einer außer Kontrolle geratenden Inflation, sprich Geldentwertung. Dem widerspricht Nationalbank-Gouverneur Ewald Nowotny, der dieser Geldschwemme - wegen des Zeitpunkts - skeptisch gegenübersteht. "Solange die Wirtschaft nicht stärker wächst, gibt es keinen Preisdruck auf der Angebotsseite", so der Ökonom. Die aktuellen Inflationszahlen geben ihm recht, mit 1 Prozent liegt Österreich sogar am oberen EU-Ende.

Der letzte Pfeil im Köcherder Währungshüter

Es besteht allerdings die Gefahr sogenannter Blasen, etwa bei Immobilien, Edelmetallen - und auch Kunst. Wenn viele von Geld in Sachwerte flüchten, steigen die Preise Letzterer viel zu stark. Ein schöner Teil davon ist kreditfinanziert, und wenn sich diese Preise normalisieren, also sinken, haben die Banken Ausfälle zu verzeichnen. Im voluminösen Immobilienbereich kann dies ganze Institute in Schieflage bringen. Was dann passiert, erlebt Österreich ja bei der Hypo. Die Zentralbanken kontrollieren die Entwicklung der Immobilienpreise und die Rolle von Finanzinstituten genauer als in der Vergangenheit. Wie genau, wird erst die Zukunft zeigen.

Die Geldschwemme der EZB, die ab Montag über Europa schwappt, hilft natürlich den verschuldeten Ländern, da deren Anleihe-Konditionen auf dem niedrigen Niveau der "stabilen" Länder bleiben. Da es dabei um viele Milliarden geht, wird es Ländern leichter gemacht, am - praktisch zeitgleich - verkündeten Investitionsprogramm der EU-Kommission teilzunehmen. Ein Beispiel: Um den Energieverlust durch fehlende Leitungsnetze zu reduzieren (und den Strompreis zu senken) sind in der EU 200 Milliarden Euro nötig. Spanien und Portugal sind solche Nadelöhre. Beide Länder sind stark verschuldet, die EZB-Geldschwemme erleichtert es ihnen, am EU-Programm teilzunehmen. Das schafft Jobs.

Draghis Plan ist durchdacht, angesichts der Nullzinspolitik aber der letzte Pfeil im EZB-Köcher. Sollte die Krise zurückkehren, ist endgültig die europäische Politik gefragt.