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Für viele Araber, Iraner und Türken ist es ein Skandal, dass ihre politischen Führer, die zuhause die Presse- und Meinungsfreiheit mit Füßen treten, nach dem Attentat auf Charlie Hebdo nach Paris eilten, um sie dort hochzuhalten.
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Bagdad/Paris. Die Resonanz war überwältigend. Über eine Million Menschen hatten sich am Sonntag zu dem Trauermarsch in Paris versammelt. Unter dem Motto "Wir sind alle Charlie" waren auch Politiker islamischer Länder aus dem Nahen Osten in die französische Hauptstadt gereist, um gegen die Ermordung der Journalisten der Satirezeitung "Charlie Hebdo" zu protestieren und Solidarität mit den Werten der französischen Revolution zu demonstrieren. Presse- und Meinungsfreiheit seien auch ihr Anliegen, suggerierte die Teilnahme.
Schon unmittelbar nach dem Attentat wurde der Elysée-Palast mit Verurteilungen und Kondolenz-Schreiben aus der arabischen Welt überschwemmt, aus der Türkei, selbst aus dem Iran. Die ägyptische Zeitung Al Shourouq druckte eine Charlie-Hebdo-Karikatur ab, die sich über den selbst ernannten Kalifen des Islamischen Staats, Abu Bakr al-Bagdadi, lustig machte. Die libanesische Tageszeitung Al Akhbar veröffentlichte eine Zeichnung des syrischen Karikaturisten Yusef Abdlki: Ein und dieselbe Kugel trifft Charlie-Hebdo-Chefredakteur Stéphane Charbonnier und einen arabischen Zivilisten, der ein Heft mit der Aufschrift "Gleichheit" in der Hand hält. Bemerkenswert war ein Kommentar aus Al-Sharq Al-Awsat, einer saudisch finanzierten arabischen Tageszeitung. Deren Autor verurteilt nicht nur den Terroranschlag, sondern wirft auch all jenen ein Verbrechen vor, die solche Taten rechtfertigen und unterstützen.
Hunderte Zensoren
Damit traf er den Nagel auf den Kopf, denn die Reaktionen aus dem Nahen Osten sind pure Heuchelei. Nicht von ungefähr fallen gerade hier Hass und Gewalt gegen Medien auf fruchtbaren Boden, deren Perversion sich in den Pariser Attentaten widerspiegelt. Im Irak und in Syrien werden Journalisten kurzerhand ermordet, wenn jemandem ihre Berichterstattung nicht passt. Dort gibt es nicht nur einen staatlichen Zensor, sondern Hunderte, wie Kollegen immer wieder beklagen. Im Irak werden Journalisten bedroht, wenn sie über Korruption oder bewaffnete Gruppen im Untergrund berichten. Sie müssen in andere Städte umziehen oder ins Ausland fliehen. Die unabhängige Organisation "Reporter ohne Grenzen" spricht von Schwarzen Listen in den beiden Ländern, die willkürlich von diversen Milizen oder Gruppierungen zusammengestellt werden und die "Liquidierung" von Journalisten zum Ziel haben.
In Ägypten sperrt man unliebsame Kritiker ein und klagt sie wegen Landesverrats an. Nicht selten werden Medienvertreter am Nil gefoltert, um Geständnisse zu erpressen. Für all die ägyptischen Journalisten, die seit dem Machtantritt von Abdel Fattah al-Sisi als "Terroristen" denunziert, verprügelt oder niedergeschossen wurden oder die im Gefängnis landeten, muss die Verurteilung der Morde in Paris durch ihren Präsidenten wie blanker Hohn geklungen haben.
Der ehemalige Generalfeldmarschall al-Sisi fegt mit eisernem Besen durchs Land. Die Gefängnisse in Ägypten sind so voll wie nie mit Journalisten und Aktivisten der Revolution, deren erklärtes Ziel es war, dem Nilland Presse- und Meinungsfreiheit zu bescheren.
Doch die Spitze der Heuchelei hält Saudi-Arabien. In keinem anderen Land der Region ist der Zynismus so grenzenlos. Einen Tag nachdem Riad den Anschlag auf Charlie Hebdo verurteilt hatte, wurde der saudische Blogger Raif Badawi vor eine Moschee in Jeddah geschleppt und vor Schaulustigen mit 50 Peitschenhieben geschlagen. Der Grund: Der 30-Jährige ist Mitbegründer einer Webseite, auf der er religiöse Hardliner im Land kritisierte. Badawi wurde zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilt. Fortan erhält er jeden Freitag 50 Schläge.
Für viele war es daher ein Skandal zu sehen, dass ihre politischen Führer, die zuhause die Presse- und Meinungsfreiheit mit Füßen treten, nach Paris eilten, um sie dort hochzuhalten. In vorderster Front des Demonstrationszuges spazierten Arm in Arm der jordanische König Abdullah und der türkische Premier Ahmet Davutoglu. Dieser hatte noch vor Weihnachten eine große Aktion gegen Medienvertreter mit den Worten kommentiert: "Jeder wird für sein Verhalten zahlen." Bei der landesweiten Großrazzia wurden Dutzende Journalisten und Regierungskritiker festgenommen.
Unter den Inhaftierten ist unter anderem der Chefredakteur der Zeitung "Zaman", Ekrem Dumanli. Die Zeitung steht dem mit Präsident Recep Tayyip Erdogan mittlerweile verfeindeten islamischen Prediger Fethullah Gülen nahe, der im Exil in den USA lebt. Alles, was nur irgendwie mit Widersacher Gülen zu tun haben könnte, wird von Erdogan und seiner Regierung derzeit gnadenlos bekämpft. Immer wieder rückte die türkische Polizei in letzter Zeit gegen "unliebsame" Journalisten vor, die Korruptionsskandale aufdeckten oder Kritik am autoritären Führungsstil Erdogans übten. Stets vermutete der Staatschef seinen Rivalen hinter der Berichterstattung.
In diesem Umfeld ist es nicht verwunderlich, dass radikale Ideen gedeihen, die Al-Kaida, den Islamischen Staat (IS) oder andere Terrororganisationen bündeln und sich zu eigen machen. Wenn auch die Attentäter von Paris in Frankreich geboren und dort sozialisiert wurden, so haben sie alle drei das Gedankengut für ihre Taten aus dem Nahen Osten übernommen – die beiden Brüder von Al-Kaida aus dem Jemen, der dritte von der IS-Terrormiliz in Irak und Syrien.
Nicht nur die Regierungen der Region übertreffen sich derzeit mit Gewalttaten gegenüber ihren Bürgern, auch die Terrororganisationen selbst befinden sich im Wettbewerb der Grausamkeiten. Seit dem Mord an dem Kameramann Khaled Al Hamada des irakischen TV-Senders Al-Ahad, erstes Opfer des IS kurz nach der Blitzinvasion Anfang Juni 2014, hat Reporter ohne Grenzen von über 50 Journalisten allein im Irak erfahren, die entweder getötet, entführt oder gefoltert wurden, weil sie ihre Arbeit verrichteten. Die Täter sind nicht nur Kämpfer der Terrorbande, sondern Mitglieder aus allen Volksgruppen des Landes.