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Der feierlichen Enthüllung des Kolossalmonuments im klassizistischen Stil wohnte naturgemäß auch der amtierende amerikanische Präsident, Grover Cleveland, in illustrer Gesellschaft bei. Mit folgenden Worten beschrieb der Präsident am 28. Oktober 1886 die historische Bedeutung der knapp 93 Meter hohen Statue, die der französische Bildhauer Frédéric-Auguste Bartholdi entworfen hatte: "Ein Lichtstrahl soll die Dunkelheit der Ignoranz und Unterdrückung des Menschen durchdringen, bis die Freiheit die Welt erleuchtet."
Mit diesen Worten wurde in erster Linie an die mühsam errungene Unabhängigkeit von Großbritannien erinnert, die von den Vereinigten Staaten unbedingt gegen alle äußeren wie inneren Feinde verteidigt werden musste, sowie an den erst zwei Jahrzehnte zurückliegenden Sieg der liberalen Nordstaaten gegen die Konföderierten im Sezessionskrieg (1861 bis 1865). Aber in einem umfassenderen Sinne war damit auch das unveräußerliche Recht eines jeden Menschen auf uneingeschränkte Freiheit angesprochen.
Traurige Wirklichkeit
Diese Forderung nach Menschenrechten für alle galt in jenen Tagen allerdings noch als frommes Wunschdenken. Die "Cleveland Gazette", eine afroamerikanische Tageszeitung, schrieb damals unmissverständlich:
"Die Freiheit erleuchtet die Welt, in der Tat! Der Ausdruck widert uns an. Diese Regierung ist eine schreiende Farce. Sie kann ihre Bürger innerhalb ihrer eigenen Grenzen nicht beschützen oder vielmehr sie tut es nicht. Schmeißt die Bartholdi-Statue mitsamt Fackel und allem in den Ozean, bis die Freiheit dieses Landes derartig ist, dass es einem biederen und fleißigen Farbigen möglich ist, seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie in anständiger Weise zu verdienen, ohne ge-kukluxt, womöglich ermordet zu werden, ohne dass seine Tochter und Ehefrau auf schockierende Weise behandelt und sein Eigentum zerstört wird. Die Vorstellung, dass die Freiheit dieses Landes die Welt erleuchtet, oder gar Patagonien, ist zutiefst lächerlich."
Was hat sich seitdem verändert? Zwei Daten der jüngsten Geschichte sind bei der Beantwortung dieser Frage von größter Bedeutung: Der 11. September 2001, als die Zwillingstürme des World Trade Center in New York zu Zielen eines terroristischen Anschlages wurden; und der 20. Jänner 2009, an dem Barack Obama als erster Schwarzer das Amt als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika antrat.
Beide Ereignisse hatten einen unmittelbaren Einfluss auf die inneren Verhältnisse der USA und auf die Beziehungen der Weltmacht zu den Staaten der restlichen Welt - Grund genug, den Begriff der Freiheit aus neuer Perspektive zu betrachten und zu definieren.
Der Standort der Freiheitsstatue wurde nicht zufällig gewählt: Frédéric-Auguste Bartholdi, der mit der Ausführung des späteren Wahrzeichens von New York City beauftragt wurde, wählte Bedloe’s Island - wie Liberty Island vormals geheißen hatte - als Baugrund, da alle ankommenden Schiffe die kleine Insel in der Upper Bay passieren mussten, bevor sie in den Hafen der Weltmetropole einfuhren - mitten durch das goldene Tor ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Diesem Standort ist es unter anderem zu danken, dass die "Statue of Liberty" im Laufe der Zeit zu einer Ikone der Freiheit geworden ist, deren Strahlkraft nur mit der Symbolik der weißen Friedenstaube zu vergleichen ist. Auch die Inschrift mit den Worten der US-Autorin Emma Lazarus am Podest des Monuments trägt zur Aura der Statue bei:
"Give me your tired, your poor,Your huddled masses yearning to breathe free,The wretched refuse of your teeming shore.Send these, the homeless, tempest-tossed to me.I lift my lamp beside the golden door."
(Gib mir deine müden, deine armen,
Deine niedergedrückten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen,
Das armselige Strandgut deiner überfüllten Küsten.
Sende sie, die Heimatlosen, die vom Sturm Gestoßenen, zu mir.
Ich erhebe meine Fackel neben dem goldenen Tor.")
Dieser Einladung folgten viele Millionen Einwanderer, die ihre Heimat aus unterschiedlichsten Gründen verließen, um ihr Glück in Übersee zu suchen: In etlichen Einwanderungswellen - die größte fand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt - sind Schätzungen zufolge zwischen 1800 und 1990 rund 90 Millionen Menschen in die Vereinigten Staaten gekommen, von denen etwa zwei Drittel die US-Staatsbürgerschaft angenommen haben.
In diesem relativ kurzen Zeitraum von knapp zweihundert Jahren wuchs die Bevölkerung der Vereinigten Staaten von beinahe fünfeinhalb Millionen auf über 300 Millionen Bürger an - eine Entwicklung die nicht von allen Seiten begrüßt wurde.
Nach den Anschlägen von 9/11 verschärften sich die Einwanderungsgesetze drastisch: So verabschiedete zum Beispiel im März 2006 das Repräsentantenhaus ein Gesetz mit der Kennziffer HR4437, durch das Einwanderer ohne Ausweispapiere pauschal zu Kriminellen gemacht wurden, insofern der Aufenthalt in den USA ohne gültige ID zu einer Straftat erklärt wurde. Das Gesetz forderte außerdem den Bau eines mehrere hundert Meilen langen "Schutzwalls" zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten sowie die Verdopplung der Grenzschutzbehörde "US Border Patrol". Zudem konnten sowohl Privatpersonen als auch Organisationen, die illegalen Einwanderern halfen, als Straftäter verfolgt und angeklagt werden.
Aufgrund heftiger Massenproteste wurde dieses Gesetz wieder zu Fall gebracht, wobei eine endgültige Lösung des Problems bis dato noch nicht erzielt werden konnte.
Seit seiner Wahl 2008 und seiner Inauguration 2009 stützen sich große Hoffnungen auf den 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten, und Barack Obama hat seinen Visionen von einer besseren Welt und den besseren USA bei unzähligen, offiziellen Anlässen eloquent zum Ausdruck gebracht. So zum Beispiel zum zwanzigjährigen Gedenken an den Mauerfall am Brandenburger Tor: "Solange nur ein Mensch unfrei ist, sind wir nicht vollkommen frei!"
Rigide Bestimmungen
Jedoch was wiegen seine Worte, wenn nur ein Jahr danach im US-Bundesstaat Arizona eines der strengsten Anti-Einwanderungsgesetze in Kraft tritt, das Polizisten erlaubt, jeden zu verhaften, den sie auch nur als illegalen Einwanderer verdächtigen, oder wenn der US-Kongress seine Einwanderungspolitik sowie -rhetorik dahingehend abändert, dass ausschließlich Einwanderer mit hoher Qualifikation aufgenommen werden, während anderen Immigrationswilligen weiterhin der Zutritt erschwert oder gar unmöglich gemacht wird?
Ein ganz ähnliches Bild zeigt sich momentan auch im Vorwahlkampf zur nächsten Präsidentschaft. Obamas Herausforderer um sein Amt haben das Thema "Einwanderung" in riesigen Buchstaben auf ihre Fahnen geschrieben.
So konterte etwa Michelle Bachmann, derzeit politisches Aushängeschild der erzkonservativen Tea-Party-Bewegung, bei einer erst kürzlich gehaltenen Fernsehdebatte auf die Frage nach ihrem Vorschlag zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, dass im Fall ihrer Wahl die gesamte 3100 Kilometer lange Südgrenze der Vereinigten Staaten lückenlos mit Mauern und Zäunen gegen illegale Einwanderer verbarrikadiert würde, wodurch wenigstens zeitweilig das Problem mangelnder Arbeitsplätze beseitigt wäre.
In diesen schrillen Chor wird Barack Obama einstimmen müssen, wenn er 2012 wiedergewählt werden möchte. Es stellt sich nur die Frage, welchen Ton der Friedensnobelpreisträger von 2009 dabei anstimmen wird.
Geburtstagswünsche
Die Fackel der Freiheit, welche die Lady Liberty seit ihrer Errichtung trägt, sollte Bedeutung für die ganze Welt haben. Überall sollte die Erkenntnis herrschen, dass jede Form der Diskriminierung eine Verletzung des Menschen in seiner angeborenen Würde ist: Die Freiheit zu gehen, wohin man will; zu leben, wo man nicht um sein Leben fürchten muss; zu arbeiten, wo man Beschäftigung findet, muss jedem uneingeschränkt und bedingungslos gegeben sein.
Nur so kann der Gedanke eines griechischen Einwanderers in die USA für alle Immigranten weltweit zur echten Hoffnung werden: "Ich sah die Freiheitsstatue. Und ich sagte zu mir: Lady, du bist eine solche Schönheit! Du hast deine Arme geöffnet und bringst alle Ausländer hierher. Gib mir eine Chance zu beweisen, dass ich es wert bin, etwas zu tun, um in Amerika jemand zu sein. Und stets war diese Statue in meinen Gedanken."
Martin Kolozs, geboren 1978,
lebt als Schriftsteller und Verleger in Innsbruck. Er hat mehrere Bücher und Theaterstücke veröffentlicht. Nähere Infos im Internet unter: www.martinkolozs.at
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Betreten verboten
Das Symbol des amerikanischen Traums macht nach den Geburtstagsfeiern ein Jahr Urlaub: Die Freiheitsstatue wird ab 29. Oktober für Besucher geschlossen. Der Zugang in Bauch und Krone der Statue ist aus Sicherheitsgründen gesperrt. Die Renovierungsarbeiten sollen ein Jahr dauern.