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Die große Lüge über den kleinen Albert

Von VonWZ-Korrespondent Roman Goergen

Wissen
John B. Watson ist in Verruf gekommen.
© © © Underwood & Underwood/Corbis

Was John B. Watson machte, war viel eher Manipulation als Psychologie.


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Toronto. Menschliches Verhalten lässt sich naturwissenschaftlich erklären und konditionieren. Das wollte der amerikanische Psychologe John B. Watson mit dem Experiment mit dem kleinen Albert beweisen. Neue Belege zeigen: Das Experiment war getürkt. Der kleine Junge hatte einen Hirnschaden.

Die alten, wackligen Filmaufnahmen von 1920 lassen den Gesichtsausdruck des kleinen Alberts nur erahnen. Der neun Monate alte Junge scheint zunächst guter Laune. Der Forscher John B. Watson von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore präsentiert dem Kleinkind eine ganze Reihe von Objekten und Kleintieren. Kein Problem für Albert - selbst von einem kleinen Feuer lässt er sich nicht beeindrucken.

Doch als die weiße Ratte, die der Kleine in der ersten Versuchsreihe noch als möglichen Spielpartner ausgemacht hatte, zwei Monate später wieder erscheint, schlägt Watson hinter Albert mit einem Hammer gegen eine Metallstange. Der laute Klang erschreckt den Jungen. Bei Wiederholungen beginnt das Kind zu weinen. Schließlich kann der Forscher Albert nur mit der weißen Ratte zum Weinen bringen, der Lärm der Stange ist nicht mehr nötig. Zuletzt reagiert Albert auch mit Furcht auf Dinge, die er mit der Ratte assoziiert - andere Kleintiere, Baumwolle, weiße Bärte. Selbst ein Pelzmantel treibt Albert Tränen in die Augen.

Das sogenannte "Little Albert"-Experiment galt lange Zeit als wichtiger Meilenstein in der psychologischen Disziplin des Behaviorismus. Die von John B. Watson mitgeprägte Theorie geht davon aus, dass jegliche Verhaltensweise mit ausschließlich naturwissenschaftlichen Methoden erklärt werden kann. Einfühlung und Introspektion seien unnötig. Besonders in Nordamerika hat Behaviorismus die Verhaltensforschung jahrzehntelang dominiert. In den Experimenten der Behavioristen geht es oft um die Steuerung emotionaler und physischer Reaktionen durch Reize. Neben dem kleinen Albert ist der berühmte Pawlowsche Hund das bekannteste Beispiel. Die praktischen Erkenntnisse der Forschung finden heutzutage weitreichende Anwendung.

Doch trotz dieser Akzeptanz kommen immer stärkere Zweifel an der Legitimität der Versuchsreihe auf, die den Behaviorismus mit begründet hat. So stellen Forscher sogar die Frage, ob das Experiment mit dem kleinen Albert nichts als akademischer Betrug war. In einer Ende Januar veröffentlichten Untersuchung in der Fachzeitschrift "History of Psychology" legen die Autoren den Schluss nahe, dass der kleine Albert nicht nur einen Hirnschaden hatte, sondern dass Watson dies auch wusste.

Einer der Autoren dieser Studie, der Psychologe Hall Beck von der Appalachen Universität in North Carolina, hatte bereits 2009 Aufmerksamkeit erregt, nachdem es ihm gelungen war, die Identität des kleinen Alberts mit hoher Wahrscheinlichkeit zu ermitteln. Nach der Auswertung zahlreicher Urkunden kamen Beck und sein Kollege Sharman Levinson zu dem Schluss, dass es sich um Douglas Merritte handeln müsse, dem Sohn einer Hebamme an der Johns Hopkins Klinik.

Kind litt an Wasserkopf

Merritte verstarb 1925 im Alter von sechs Jahren. Als Todesursache nannten die Dokumente Hydrocephalus, auch als "Wasserkopf" bekannt, vermutlich als Folge von Meningitis, die das Kind drei Jahre zuvor entwickelt habe. Obwohl es so erschien, als ob die Krankheit zur Zeit des Experiments noch nicht existierte, hatte Beck seine Zweifel. Er erinnerte sich an Aussagen von Watson, der immer wieder betonte, wie "normal, gesund und gut entwickelt" sein Versuchsobjekt war, offenkundig darum bemüht, das Experiment legitim erscheinen zu lassen. Doch die alten Filmaufnahmen vermittelten Beck den Eindruck eines "in seiner natürlichen Entwicklung zurückgebliebenen Kindes".

Also entschließt sich Beck, den Fall weiter zu untersuchen, diesmal zusammen mit Alan Fridlund, einem Psychologen von der Universität Kaliforniens in Santa Barbara. Auch Fridlund findet erhebliche Lücken und Widersprüche in der Geschichte. So sei es zunächst seltsam, dass in einer Ära ohne Antibiotika ein Kind drei Jahre mit Meningitis überleben könne. Die Filmaufnahmen beunruhigen auch Fridlund. So sei das Verhalten des Kindes "alarmierend reaktionsarm", die Bewegungen lassen den Psychologen auf neurologische Probleme schließen. Um eine weitere Meinung zu erhalten, baten die Forscher einen Kollegen um eine Analyse des Films, ohne ihm dabei zu sagen, dass es sich um das berühmte Experiment handelt. So kommt auch der Neurologe William Goldie zu der Einschätzung, dass der Junge entweder autistisch sei oder unter einem anderen neurologischen Problem leide.

Forscher ging in die Werbung

Den jedoch schwersten Beweis liefert der Neffe des Versuchskindes, Gary Irons. Er ermöglicht Beck und Fridlund Einblick in die medizinischen Unterlagen von Merritte. Sie belegen: Merritte war in der Tat der kleine Albert, er war von Geburt an schwer krank, weinte oft ohne klare Motivation und lernte niemals zu sprechen oder zu laufen. "Das lässt uns zu dem beinahe unumgänglichen Schluss kommen, dass Watson den wahren Zustand des kleinen Alberts kannte und ihn absichtlich verschleierte", sagt Fridlund. Ginger Ross Breggin, Direktorin eines bekannten Therapiezentrums in den USA, findet, dass die Enthüllungen Anstoß dazu liefern sollten, sich stärker mit den Forschern als mit ihrer Forschung zu befassen. Sie verweist darauf, dass Watson seine Arbeit als Verhaltensforscher schnell aufgab und 1924 Vize-Präsident einer der größten Werbeagenturen Amerikas wurde. "Was er also wirklich tat, war nur herauszufinden, wie er Menschen am besten manipulieren konnte."