Pascal Lamy prophezeit Ende der "Hyperprofitabilität" von Banken.
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"Wiener Zeitung": Am Mittwoch wurde Russland das 156. Mitglied der Welthandelsorganisation WTO. Was bedeutet der WTO-Beitritt für die EU, für Österreich?
Pascal Lamy: Der Marktzugang wird für die Handelspartner Russlands einfacher werden, die russischen Handelspartner werden von der Rechtssicherheit, welche das Regelwerk der WTO bietet, profitieren. Solange nämlich die Handelspartner nicht Mitglied der Welthandelsorganisation sind, kann dieses Land den Freihandel einschränken. Aber als WTO-Mitglied ist man an die Normen und Regeln der Welthandelsession gebunden. Etwa in Fragen des Schutzes geistigen Eigentums, bei Investitionen. All das wurde von der russischen Duma bereits ratifiziert. Für Österreich bedeutet Russlands WTO-Beitritt einen einfacheren Marktzugang und mehr Sicherheit, mehr Vorhersehbarkeit in den Handelsbeziehungen mit Russland. Diese Rechtssicherheit sollte zum mehr Handel zwischen Russland und der EU, zwischen Russland und Österreich führen.
Viele Investoren sind aber gerade über die zunehmende Rechtsunsicherheit in Russland besorgt.
Die WTO ist nicht für die gesamte Palette des Wirtschaftslebens eines Landes verantwortlich. Denken Sie etwa an Korruption. Das ist ein Thema, das immer wieder angesprochen wird, aber die WTO hat keinerlei Instrumente, wie mit Korruption zu verfahren ist. Wir decken eben nur einen Teil des Regelwerks der Wirtschaftsbeziehungen ab. Und so ist eben Korruptionsbekämpfung derzeit hauptsächlich Sache der souveränen Nationalstaaten.
Welchen Beitrag kann der freie Handel für das Wiederanspringen des globalen Wirtschaftsmotors leisten?
Das Beseitigen von Handelshindernissen ist eine sehr kostengünstige Möglichkeit, um aus der derzeitigen Krise herauszukommen. Um aber mehr Handel zu ermöglichen, brauchen wir neue Vereinbarungen, neue Regeln. Das Dumme ist nur: Mit diesen Regeln verändern wir die Wettbewerbsposition einzelner Branchen in den einzelnen Ländern.
Klingt das Mantra der WTO - Freihandel führt zu mehr Wachstum - nicht ein wenig zu simpel?
Nein, weil Freihandel strukturelle Reformen mit sich bringt. Wenn man Handelshindernisse beseitigt, dann gewinnt man dort, wo man einen komparativen Vorteil genießt, und verliert dort, wo man einen relativen Nachteile hat. Das macht die jeweilige Volkswirtschaft effizienter und diese Effizienz-Steigerungen lassen sich in Wachstum übersetzen. Das sind sich alle Ökonomen einig.
Und doch ist der Weg zum Freihandel nicht so trivial.
Weil dieser Weg nicht nur mit ökonomischen Herausforderungen gepflastert ist, sondern vor allem das politische System fordert. Wenn man nämlich neuen Handels-Vereinbarungen schließt, dann müssen auf politischer Ebene jene Gruppen, die in diesem neuen Handels-Regime zu den Verlierern gehören, davon überzeugt werden, dass sie im Dienste der Mehrheit - also jener Gruppen, die von diesem neuen Handelsregime profitieren würden -, einem Kompromiss zustimmen. In Krisen-Zeiten sinkt aber leider die Bereitschaft zu Kompromissen stark und die Kapazität des politischen Systems, solche Kompromisse herzustellen, verringert sich ebenfalls.
Diese Krise begann als Hypotheken-Krise in den USA, wuchs sich rasch zu einer globalen Finanz-Krise aus. Wie konnte es dazu kommen, dass diese Krise voll auf die Real-Wirtschaft übergreifen konnte?
Es gibt eine Kluft zwischen der Finanz- und der Realwirtschaft. Aber die Realität ist - das haben wir der Geschichte schon oft erlebt -, dass bei Finanz-Krisen Vermögen von Menschen vernichtet wird. Dadurch verringert sich der Konsum der Bürger, die Nachfrage sinkt, das Angebot wird in Folge zurückgefahren und somit enden wir in einer veritablen Wirtschafts-Krise. Ausgangspunkt der Krise war - das haben Sie in Ihrer Frage angesprochen - der am meisten integrierte und globalisierte Wirtschaftszweig überhaupt, nämlich die Finanzwirtschaft. Und diese war keiner globalen Regulierung unterworfen. Das ist keine Frage der WTO, die Regulierung der globalen Finanzmärkte gehört in das Basel-System, das Basel-Komitee, das Financial Stability Board.
Die Ironie der Geschichte: wir hatten ein Welt-Handels-System, das relativ gut reguliert war - ich sage relativ, denn man kann natürlich noch manches verbessern - und wir hatten ein globales Finanzsystem, das überhaupt keiner globalen Regulierung unterworfen war. So kam es zur Subprime-Krise, so konnte die Kredit-Blase entstehen, die nach dem Platzen zu massiven Turbulenzen in der Real-Wirtschaft geführt hat.
Wie soll die Regulierung in Hinkunft verbessert werden?
Es geht darum, die Finanz Dienstleistungs-Branche in einer Art und Weise zu regulieren, dass Blasen und Schocks, wie wir sie erlebt haben, in Zukunft nicht mehr so einfach entstehen. Aber das dauert Zeit. Man muss zuerst auf internationaler Ebene einen Konsens über die nötigen Reformen herstellen und man muss die Konsequenzen des gefundenen Kompromisses tragen.
Soll heißen?
Das Business-Modell der Finanzdienstleistungs-Wirtschaft muss sich verändern. Es wird in Hinkunft eben keine 15 Prozent Kapitalrendite mehr geben, wie das jahrzehntelang in dieser Industrie Standard war. Solche Ergebnisse konnten in dieser Branche nur erzielt werden, weil Risiken in einem Ausmaß eingegangen wurden, wie wir das eben in den vergangenen Jahren erlebt haben. Und das hat sich ja nicht gerade als Erfolgsmodell erwiesen.
Man gewinnt den Eindruck, dass es eine gewisse Verstimmung der Vertreter der Realwirtschaft über die Vertreter der Hochfinanz gibt.
Stimmt. Das Tauschgeschäft der Finanzwirtschaft lautete: Hyperprofitabilität gegen Hyper-Risiko. Das Problem ist aber, dass die Finanzwirtschaft so etwas wie das Nervensystem der gesamten Wirtschaft ist. Wenn es dort zum Kollaps kommt, dann bleibt dem Staat nichts anderes übrig, als zum Schutz des Finanzsystems zu intervenieren.
Genau das wird von weiten Teilen der Bevölkerung aber als höchst unfair achtet: Der Staat rettet die Jobs der gut verdienenden Banker, das Kapital der Investoren, nicht aber die Jobs von ganz einfachen kleinen Selbstständigen oder Arbeitern.
Stimmt. Wenn ein Autokonzern untergeht, dann ist eben ein Autokonzern bankrott gegangen. Wenn ihr Fleischhauer, ihre Bäcker nebenan in Konkurs geht, dann ist der in Konkurs. Schicksal. Da wird niemand sagen: "Halt, Moment mal! Es geht um die Rettung des Wirtschaftssystems, da muss die Öffentlichkeit, der Staat intervenieren!" Diese besondere Rolle ist für das Finanzsystem spezifisch. Leider haben die Regulatoren zu wenig darauf geachtet.
Woher sollen die Jobs kommen?
Es gibt ein Problem: bei der Preisbildung von Kapital und Arbeit. Man hat immer mehr Arbeitskräfte eingespart, um den Preis eines höheren Ressourcen- und Energie-Einsatzes. Ich glaube nicht, dass diese Balance gut ist. Die Optimisten werden jetzt sagen, es ist alles nur eine Frage des Preises. Wenn es uns gelingt, Ressourcen richtig einzupreisen, dann ist das Problem gelöst, der Markt wird das erledigen.
Zurück zur Frage der Jobs.
Die gute Nachricht: Entwicklung schafft stets per se Arbeitsplätze. Denn wenn Menschen aus der Armut befreit werden, fragen diese Menschen Güter und Dienstleistungen nach, was wiederum Jobs schafft. Wir haben global in den vergangenen Jahrzehnten mehr Arbeitsplätze geschaffen, als verloren gegangen sind.
Um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen - sei es der Klimawandel, oder die Herausforderung, im Jahr 2100 10 Milliarden Menschen auf diesem Planeten Nahrung zu geben - brauchen wir Investitionen.
Das passiert auch, denken Sie nur an Afrika. Die Optimisten werden wieder sagen: Der Markt kann das regeln. Wenn es Nachfrage nach natürlichen Ressourcen gibt, dann werden Investitionen eben dorthin gelenkt, sodass mehr von diesen Ressourcen bereitgestellt werden können.
Die Frage ist nun: Wieviel Vertrauen kann man in die Märkte haben? Wie viel staatliche Eingriffe, wie viel Regulierung ist notwendig? Das liegt nicht an jedem einzelnen Land, dies zu entscheiden. Wenn aber jedes Land dies unterschiedlich entscheidet, wann haben wir ein Problem.
Wir wissen alle, was getan werden müsste, wir wissen auch, wie die kollektiven Handlungen aussehen müssten, aber auf individueller Ebene Sie mir dazu nicht in der Lage.
Politische Systeme sind derzeit national. Wo wird Legitimität hergestellt? In einem nationalen Rahmen. Es gibt keine globale Verantwortung. Wenn Sie Politiker sind, dann stellen sie rasch fest, dass nicht der Nachbar es ist, der sie wählt. Man muss die politische Energie freisetzen, um dieses Westfälische System zu überwinden. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es nur sehr wenige Gelegenheiten gibt, die dies möglich machen.
Nach dem Zusammenbruch des WTO-Doha-Prozesses haben wir eine Fragmentierung erlebt: Einzelne Länder haben bilaterale Handelsabkommen untereinander geschlossen.
Es geht nicht um ein Entweder/Oder. Bilaterale Handelsabkommen haben auch Vorteile. Oft waren sie der Anfangspunkt für multilaterale Abkommen.
Blenden wir zurück: Im Jahr 2000 standen die Bretton-Woods-Institutionen Währungsfonds und Weltbank, aber auch die WTO und unter heftiger Kritik. Die Gipfel-Treffen der Wirtschafts-Mächte waren regelmäßig von Demonstrationen begleitet. Was hat sich da in den vergangenen 12 Jahren geändert?
Die Stimmung hat sich verändert. Warum? Erstens: Wir - WTO, IMF, Weltbank - haben uns geändert. Wir sind in einen Dialog mit unseren Kritikern eingetreten. Der zweite Grund: Die Kritik der Globalisierungsgegner an die Adresse der Bretton-Woods-Institution lautete, dass orthodoxe Wirtschafts-und Finanzpolitik für die Entwicklung nicht förderlich ist, dass sie keinen Beitrag zur Entwicklung leisten kann. Die Realität hat aber gezeigt, dass das sehr wohl der Fall ist. Wer drängt heute etwa am stärksten für den Abschluss der WTO-Doha-Runde? Afrikanische Länder! Natürlich klagen einige im Westen über die Konkurrenz aus China, gleichzeitig muss man sich aber darüber freuen, dass es China gelungen ist, 300 Millionen Menschen aus der Armut zu befreien- und zwar dank Freihandel.
Ein dritter Faktor: Technologie. Technologie führt zu dramatisch sinkenden Distanz-Kosten. Das ist für den Handel förderlich. Um exportieren zu können, müssen die Länder importieren, das haben sie erkannt. Wenn ich vor 20 Jahren gesagt hätte, der beste Weg um zu exportieren, ist zu importieren, dann hätte man gesagt: Der Mann ist verrückt. Heute ist das ganz offensichtlich, dass das stimmt. Um das zu illustrieren: Wenn China 100 Einheiten exportiert, dann importiert China 50 Einheiten.
Beim Trilog in Salzburg stellen sich heuer Experten - darunter Sie - die Frage: Wie erzielt man qualitatives Wachstum? Nachhaltiges, qualtitätsvolles Wachstum, das klingt doch wie ein nie erreichbarer, wolkiger Traum. Wachstum, das ist doch immer noch: Mehr Geld, mehr Zeug, mehr von allem.
Es gibt heute das Wissen darum, dass Wachstum mehr Zutaten braucht. Wir haben derzeit verschiedene Küchen, wo verschiedene Gerichte zubereitet werden. Diese Speisen - wenn Sie mir dieses Bild erlauben - sind trotzdem immer noch verschieden. In dem Moment, an dem man Bildung, Freizeit, soziale Inklusion mit in die Kalkulation einbezieht, wird das alles sehr subjektiv und auch stark von kulturellen Faktoren abhängig. Meine Interpretation: Wir haben die verschiedenen Küchen, aber was fehlt, ist eine globale Küche. Im Moment kritisiert jeden den Indikator Bruttosozialprodukt, aber leider haben wir derzeit noch nichts, womit wir das BIP ablösen könnten. Was wir in jedem Fall tun müssen: Das BIP durch andere Indikatoren ergänzen.
Im globalen Wirtschaftsrestaurant der Zukunft wird also Fusionsküche serviert?
So ist es.