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Die "Hashtag-Justiz"

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. Foto: Daniel Novotny

Sexismus-Debatte: Fortschritt oder Exzess?


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Ich habe in letzter Zeit oft an Otto Mühl denken müssen. Otto Mühl war der Punkt, an dem die sexuelle Revolution gescheitert ist. Mit ihm ist die Befreiung in ihr Gegenteil gekippt: in eine Figur, die das Genießen beansprucht.

Heute schlägt das Pendel wieder zurück. Heute soll die Sexualität nicht aus ihrer Verklemmtheit befreit, sondern die Enthemmung reguliert werden. Hat die sexuelle Revolution die strikten moralischen Gebote untergraben, so sollen nun neue Normen des Geschlechtlichen verhandelt werden.

Dazu dient der Hashtag: # ist ein kleines Zeichen, das zu einem starken Instrument geworden ist. Ein kleines Zeichen, das sich als mächtiger Hebel erweist. Mit ihm können Opfer und Ohnmächtige die anmaßend genießenden Figuren vom Sockel kippen. Und dennoch. Auch hier zeigt sich, wie ambivalent gesellschaftliche Entwicklungen sind. Wie positive Tendenzen und deren Exzess Hand in Hand gehen. Wie der Fortschritt von seinem Kippen begleitet wird. Gar nicht mehr zeitversetzt, sondern gleichzeitig, instantan sozusagen - wie es seiner viralen Logik entspricht. Die virale Logik eines internetgetriebenen Protests wird durch Empörung angetrieben. Empörung aber ist eines jener Gefühle, die sich selbst kapitalisieren: Es zielt auf Maximierung ab. Und genau dem fällt die Differenzierung zum Opfer. Die Differenzierung zwischen Verbrechen wie Vergewaltigung, Missbrauch, Nötigung - und den Schatzi-Sagern und "Herrenwitzen". Deren Gleichsetzung ist kein lässlicher Nebenaspekt, sondern vielmehr zentral: Die #metoo-Kampagne mit all ihren Ausläufern bis in die heimische Politik ist ganz wesentlich eine anti-juristische Kampagne. Anti-juristisch heißt nicht, dass sie nicht legal wäre, sondern es heißt, dass sie sich der juristischen Logik verweigert - jener Logik, wonach das Gesetz die Tatbestände definiert. Jetzt aber heißt es: Wir definieren! Wir definieren, was sexuelle Belästigung ist! Die "Hashtag-Justiz" ist mächtig geworden.

Aber die Ambivalenz schläft nicht. Diese Selbstermächtigung, die Behauptung der subjektiven Perspektive funktioniert nur mittels eines anschwellenden Drangs zur öffentlichen Rede über den Sex, zur öffentlichen Enthüllung intimster Details und Regungen. Ist das im Sinne der Frauen? Bringt das Solidarität - oder nur multiple Exhibition? Erreicht man damit Frauenrechte, Opferschutz, Gerechtigkeit? Werden die Täter zur Rechenschaft gezogen - oder werden nur manche gezielt zu Fall gebracht? Die Kehrseite dieser öffentlichen Intimität ist das, was die "Süddeutsche" die "Unbarmherzigkeit des Verfahrens" genannt hat. Eine Unbarmherzigkeit, die nicht nur einer Hysterisierung Vorschub leistet, sondern auch Denunziation, Willkür und Instrumentalisierung die Tür öffnet. Dies liegt in ihrer viralen Logik.

Wir haben noch nicht begriffen, wie tief greifend das die Gesellschaft, wie weitreichend das all unsere Beziehungen verändern wird. Die Position der Chefs, der Machos, der Otto Mühls dieser Welt ist untergraben. Das ist die gute Nachricht. Zugleich aber muss man sich fragen: Was bedeutet es, wenn nun ein Regisseur alle Szenen mit Kevin Spacey aus seinem Film löscht? Ist das noch Moral - oder bereits Exorzismus?